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4.4 Das Grosshirn

Der grösste Hirnteil, das Grosshirn (oder der Neocortex), ist stammesgeschichtlich um die 50 Millionen Jahre alt; er ist eine Errungenschaft der jüngeren Säugetiere. Das Auge wird nun zu einem voll ausgebildeten Sehorgan, das Bilder der Umwelt im buchstäblichen Sinne liefern kann, das Lernen zu einer völlig flexiblen Angelegenheit. Es gibt in dem neu entstehenden Teil des Gehirns unter anderen Zellen, die in einfacher Weise in sensorischer oder motorischer Hinsicht mit einzelnen Körperteilen verbunden sind. In "einfacher Weise" bedeutet, dass die Stimulation dieser Zellen im motorischen Fall elementar einfache (im Gegensatz zu den komplexen Programmen des L-Systems) Reaktionen, z.B. die Kontraktion eines einzelnen Muskels, auslöst. Dies hat zur Folge, dass nun durch das variierbare Kombinieren einzelner Reaktionselemente ein flexibles, verschiedenen Umständen angemessenes Handeln möglich wird. Von Ditfurth (1982) verwendet als Illustration das Klavier, dessen Tasten von einem geübten Spieler zum Erzeugen von immer wieder neuen Melodien benützt werden können, dies im Gegensatz zu einer limierten Auswahl von Tonbändern, die einem Lebewesen zur Verfügung stehen, dessen Entwicklung nur bis zum Mesocortex vorgedrungen ist. Weiter gibt es Zellen, deren Funktion nicht a priori vorgegeben ist, d.h. gewissermassen freien Speicher. Dieser kann mit Erfahrungswissen gefüllt, aber auch wieder gelöscht werden (Vergessen). Die angeborenen Umweltmodelle sind nicht mehr abschliessend vorgegeben; sie können durch Lernprozesse weiterentwickelt werden.
Diese neue Entwicklung bringt neue Fähigkeiten mit sich: Diejenigen des Langzeit-Gedächtnisses und der Antizipation lassen vergangene Erfahrung, aber auch vorgestellte Zukunft in der Gegenwart wirksam werden. Diejenige der Abstraktion ermöglicht eine Loslösung von der Realität der Umwelt. Die Möglichkeiten, die eigene Umwelt nun zu beeinflussen und schliesslich auch aktiv zu gestalten, nehmen enorm zu. Im Laufe der Menschwerdung kommt es dann zur Ausbildung eines eigentlichen Ich-Bewusstseins, das sich getrennt von den übrigen Dingen der Welt empfindet. Damit entsteht ein "mentales System", eine weitere Stufe zu einer neuen emergenten Realität (vgl. mit Fig.2 in "Wandel des Weltbildes"), die wir ganz im Sinne der vorher diskutierten Auffassungen von Sperry (1985) verstehen möchten. Dies bedeutet, dass diese neue Ebene der Wirklichkeit offenbar nur auf der materiellen Grundlage eines neuralen Systems entstehen kann, dabei aber nicht einfach deren Epiphänomen ist. In diesem Sinne kann die Bewusstseinsentwicklung wohl mit dem in phylogenetisch kurzer Zeit erfolgten enormen Grössenzuwachs des menschlichen Gehirns (der in erster Linie den Neocortex betrifft) in Zusammenhang gebracht werden (vgl. mit Fig.4 und 5).
Es ist auch zu vermuten, dass die Bewusstseinsentwicklung in enger Wechselwirkung mit der Entwicklung von sozialen Systemen steht. Von entscheidender Bedeutung könnte dabei die folgende Tatsache sein: Infolge der Vergrösserung des menschlichen Hirns haben auch schon Foeten einen grösseren Kopf als früher. Diese müssen deshalb in einem früheren Entwicklungsstadium, gewissermassen ein Jahr zu früh, geboren werden, damit sie den Geburtskanal noch passieren können. Während dieses "extra-uterinen Frühjahres", wie dies der Basler Biologe Adolf Portmann genannt hat, erlebt der Säugling dadurch, dass er auf eine besondere Betreuung durch seine Mutter (oder eine andere Bezugsperson) angewiesen ist, eine besonders einprägsame Phase (vgl. mit Böckmann 1979, Campbell 1985).