Oft werden die ersten vier Stufen, wie in Abb.2 gezeigt, zu den zwei Ebenen von materiellen (1 und 2) und sozialen (3 und 4) Bedürfnissen zusammengefasst. Damit haben wir eine Unterteilung, die wieder eine Parallele zur Dreiteilung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Reproduktion, Organisation und Orientierung aufweist (vgl. 1.2 in “Kulturelle Evolution”). Maslow vertritt nun die Ansicht, dass höhere Bedürfnisse sich erst bemerkbar machen können, wenn vorher die darunter liegenden voll abgedeckt sind. Erst wenn ich satt bin, kann ich den Wunsch verspüren, mich meinen Mitmenschen zuzuwenden, usw. Diese Auffassung hat recht vehemente Kritik hervorgerufen, zum Teil wird sie ja auch durch die Realität widerlegt. Z.B. gibt es Hungerkünstler und religiöse Fanatiker, aber vermutlich wichtiger ist der Umstand, dass der in der westlichen Zivilisation in den letzten Jahrzehnten ständig steigende materielle Wohlstand die Menschen nicht glücklicher gemacht hat, was eigentlich der Fall sein sollte, denn jetzt müsste der Weg in Richtung der höheren Bedürfnisebenen völlig frei sein. Stattdessen aber sind die Menschen unzufriedener, unsicherer, ängstlicher, entfremdeter und frustrierter
geworden.4Siehe Micheal Bartelt, Helga Grippe, Kurt Kaiser, Karl Ernst Wenke, Horst Westmüller und Horst Zillessen 1978, 21-22.
Erinnern wir uns auch an das alte Sprichwort: “Ein voller Bauch studiert nicht gern”. Es scheint plausibel, dass die menschliche Bedürfnisstruktur nicht so linear gesehen werden kann; erwiesenermassen kann es mannigfaltige Wechselwirkungen geben. Diese Frage der Wirkungsweise der Bedürfnisse ist auch von grosser Bedeutung im Zusammenhang mit der Entwicklungszusammenarbeit. Dort wird oft die Meinung vertreten, der Befriedigung der Grundbedürfnisse, der
Basic Needs, müsste vor allem anderen höchste Priorität eingeräumt werden. Eine andere Auffassung fordert dagegen eine simultane Betrachtung aller Ebenen der Maslow’schen Hierarchie. Zweifellos können Hungerkrisen nicht negiert werden, aber darüber hinaus vertreten Michael Bartelt u.a. die Auffassung, dass es in einem gewissen Rahmen möglich ist, einen begrenzten materiellen Zuwachs oder sogar ein materielles Weniger durch ein immaterielles Mehr, durch intellektuelle, geistig-seelische und emotionale Entwicklung und Selbstverwirklichung zu
kompensieren.5Vgl. Bartelt u.a. 1978, 20.