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Bewusstsein

Vernünftig werden heißt weiblich werden! Beitrag zu einer evolutionären Bewußtseinsökologie

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Wolfgang Zierhofer und Dieter Steiner (Hrsg.): Vernunft angesichts der Umweltzerstörung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S.197-264.
1. Einleitung: Die Krise ist männlich ... (S. 197-205)
2. Zum Fortgang der Desintegration (S.205-218)
2.1 Archaisches und Magisches Bewusstsein (S.205-207)
2.2 Mythisches Bewusstsein (S.207-210)
2.3 Mentales Bewusstsein I (S.210-214)
2.4 Mentales Bewusstsein II (S.214-218)
3. Wege zur Reintegration (S.218-249)
3.1 Vorversicherung I: Bei einer postkonventionellen Gerechtigkeitsmoral (S.219-227)
3.2 Vorversicherung II: Bei einer kommunikativen Vernunft (S.227-237)
3.3 Rückversicherung I: Beim Gemeinschaftlich-Besonderen (S.238-244)
Jeder Mensch ist für seine Existenz immer auf den Kontext einer bestimmten Umwelt und eines bestimmten sozialen Zusammenhangs angewiesen, auch wenn er im Zeitalter der Mobilität Kontexte wechseln kann. Beziehungen zu diesem Umfeld prägen eine vorintellektuelle praktische Rationalität. Es geht somit um die Frage der Möglichkeit, in einem ersten integrativen Schritt durch Bezugnahme auf die Ebene des praktischen Bewußtseins eine „rückwärtige" Orientierung anzustreben. Voraussetzung dafür, daß damit ein Gewinn verbunden ist, wäre allerdings, daß eine Übereinstimmung zwischen Inhalten eines solchen Bewußtseins und Kontexten besteht. Mit andern Worten: Es muß entweder möglich sein, auf Bestände von Erfahrungswissen zurückzugreifen, das seine Relevanz hinsichtlich der Kontexte, in denen es entstanden ist, noch nicht eingebüßt hat, oder aber die Kontexte müssen umgekehrt eine derartige Qualität haben, daß die Auseinandersetzung mit ihnen zu hinsichtlich der Krise brauchbarem neuem Erfahrungswissen führen kann. Ein Passen dieser Art ist wohl vielerorts nicht mehr gegeben, aber wir können uns hier mit dieser Frage nicht weiter beschäftigen. Ich betrachte aber im folgenden Gedankengänge, in denen eine solche Wiederanbindung als unerläßlich gesehen und entsprechend begründet wird. Im Gegensatz zu den zwei vorherigen Abschnitten wird dabei nicht von einem einheitlichen Vorschlag die Rede sein, sondern von verschiedenen Ansätzen, die aber hinsichtlich ihres Anliegens eine Konvergenz aufweisen. Ich konzentriere mich dabei auf die gesellschaftliche Komponente des praktischen Bewußtseins und nehme an, daß diese intensiv mit der umweltbezogenen Komponente zusammenhängt.71
Für eine Untersuchung sozialer Bezüge von „Umweltbewußtsein" s. Hans Kastenholz 1994.
Wir werden sehen, daß es bei den Forderungen nach einer Wiederanbindung nicht darum geht, auf einem Weg zurück jegliche Möglichkeit von Verallgemeinerung zu verwerfen und nur das Partikuläre gutzuheißen, sondern darum, aus dem je Besonderen heraus situationsadäquat das zu entwickeln, was verallgemeinerbar ist, und nicht umgekehrt das Universelle als abstrakt Vorgegebenes dem konkret Speziellen unter allen Umständen aufzustülpen.72
Wie wir gesehen haben, hat die Rede vom Universellen bei Kohlberg eine substantielle Bedeutung, bei Habermas dagegen lediglich eine prozedurale. Um es zu wiederholen: Der letztere Ansatz ist also bedeutend weitreichender, da in einer Art von Prozedur wohl verschiedenartige Inhalte Platz finden können. Trotzdem stellt sich die Frage, ob ein Verfahren auf jede Situation anwendbar ist.
Wer für das Letztere plädiert, nämlich für einen universalisierbar angelegten ethischen Diskurs, gibt sich nach Oswald Schwemmer mit einer in bedenklicher Weise beschränkten Reichweite der Vernunft zufrieden, mit einer Vernunft eben, die eher dem entspricht, was wir Verstand genannt haben. Tatsächlich ist eine solche Vernunft dieselbe, „die auch in den Wissenschaften ihren Triumph gefeiert hat,"73
Oswald Schwemmer 1992, 5.
was sich auch darin zeigt, daß das Modell der Argumentation als getreue Übertragung des wissenschaftlichen Argumentierens verstanden werden kann.74
Diese Übertragung wird von Habermas ja auch explizit als „kognitivistische" Eigenschaft der Diskursethik angesprochen: „Normative Richtigkeit begreife ich als wahrheitsanalogen Geltungsanspruch. In diesem Sinne sprechen wir auch von einer kognitivistischen Ethik. Diese muß die Frage beantworten können, wie sich normative Aussagen begründen lassen" (Habermas 1991, 11).
Schwemmer beklagt das Verschwinden des konkreten Handlungsgeschehens aus dem Blickfeld der Ethik, das die Individuen zu Argumentationssubjekten „ohne Kontingenz und Geschichte" macht und einen eigentlichen Identitätsverlust erfordert.75
Schwemmer 1992, 10.
Diese Situation nötigt ihn zu dem folgenden ironischen Kommentar: „Die dann folgende praktisch entscheidende Frage wäre die, ob der ethische Universalismus an seine Unterscheidung zwischen der Menschheit überhaupt und den Menschen gebunden bleibt, nämlich der Menschheit, die zu retten ist, auch wenn der Mensch dabei zugrunde geht."76
Schwemmer 1992, 11.
Es ist, so Schwemmer, doch gerade unsere mit unserer Lebensgeschichte verknüpfte Identität, das Handeln nicht im Abstrakten, sondern aus dieser konkreten Identität heraus, das die Grundlage moralischer Urteilsbildung ist.
Was sonst verloren geht, das ist das Thema einer Abhandlung von Seyla Benhabib, in der sie sich kritisch mit der Moraltheorie von Kohlberg auseinandersetzt.77
Vgl. Seyla Benhabib 1989.
Diese fordert, ähnlich wie schon die auf der Vorstellung völlig autonomer Individuen basierenden Vertragstheorien von Hobbes bis Rawls, daß die Beteiligten einen Standpunkt des „verallgemeinerten Anderen" einnehmen. Dieser besteht darin, die andern so wie sich selbst als Individuen zu sehen, denen losgelöst von konkreten Kontexten und Biographien universalisierbare Attribute zukommen sollen, im wesentlichen individuelle Rechte, die nicht verletzt werden dürfen. Benhabib denkt, daß sich diese Theorie epistemische Inkonsequenzen einhandelt, weil eine derartige Homogenisierung menschlicher Individuen keine kohärente Unterscheidung zwischen Ich und Du mehr zulasse.78
In Abschnitt 3.1 wurde erwähnt, daß hier von einer „Ich-Ich-Beziehung" gesprochen werden könnte. Benhabib meint, daß Kohlberg dabei in einen der fundamentalen Irrtümer der Kantschen Moraltheorie verfalle: „In Kants Moraltheorie sind moralische Akteure gleich Mathematikern, die in verschiedenen Räumen für sich allein überlegen und alle zur gleichen Lösung eines Problems gelangen" (Benhabib 1989, 474).
Sie fragt, „ob ein solches [bindungs- und körperloses] Individuum denn als menschliches Ich gelten kann."79
Benhabib 1989, 471.
Benhabib möchte nun an die Stelle der Kohlbergschen Theorie eine relationale Theorie setzen, die die Möglichkeit zuläßt, daß der Charakter eines Selbst nicht unverrückbar vorgegeben ist, sondern sich durch die Teilhabe an Beziehungen gerade ändern kann. Dies setzt konkrete und damit unterscheidbare Individuen voraus, Individuen, die über eine innere Natur verfügen, in der die persönlichen Biographien und die Geschichte des Kollektivs miteinander verflochten sind. Dies heißt hinwiederum aber auch nicht, daß nun der Standpunkt des „konkreten Anderen" der ausschließlich richtige wäre; dies würde das andere Extrem bedeuten. Wohl sollen Unterschiede von Menschen und ihren Daseinsformen anerkannt werden, und zum Ausgangspunkt für Reflexion und Handeln genommen werden, so daß das, was sonst bei einer rein universalistischen Theorie unter den Tisch fallen würde, „das Ungedachte, Ungesehene und Ungehörte" deutlich werden kann.80
Benhabib 1989, 476.
Aber dies schließt nicht aus, daß es in jeder Situation universalisierbare Bestandteile des moralischen Standpunktes gibt, z.B. Fairneß und Reziprozität. Entsprechend redet Benhabib davon, daß sie einen „interaktiven Universalismus"81
Benhabib verwendet diesen Ausdruck in Gegenüberstellung zum „stellvertretenden Universalismus", der auf Erfahrungen von nur einer bestimmten Gruppe von Subjekten beruht: „Diese Subjekte sind ausnahmslos weiße, männliche Erwachsene, die Besitz oder zumindest einen Beruf haben" (Benhabib 1989, 460), womit noch einmal die fehlende Geschlechtsneutralität von Kohlbergs Ansatz angesprochen wäre.
vertrete. Umgekehrt hinwiederum hält sie im Anschluß an die Befunde von Gilligan dafür, daß es nicht nur um Rechte und Gerechtigkeit gehen kann oder darf, sondern daß auch Bedürfnisse und Formen des guten Lebens ein Thema sein müssen. Auf dieser Basis entwickelt sie die Idee einer „kommunikativen Ethik der Bedürfnisinterpretation". Sie soll für die Mängel einer formal-universalistischen Moraltheorie, bei der „die Definition des Gegenstandsbereichs der Moral wie auch des Ideals der moralischen Autonomie zu einer Privatisierung weiblicher Erfahrung und deren Ausschluß von einer Betrachtung vom moralischen Standpunkt her führt" kompensieren.82
Benhabib 1989, 459.
Denn eine solche Theorie „reflektiert männliche Erfahrung; der ‚relevante Andere' ist in dieser Theorie niemals die Schwester, sondern immer der Bruder."83
Benhabib 1989, 460.
Diese Art von Kritik könnte auch auf die Konzeption der kommunikativen Ethik von Habermas passen, sofern dieser sich ebenfalls Vorstellungen eines „verallgemeinerten Anderen" macht. Bedeutet die Forderung nach „Herrschaftsfreiheit", daß asymmetrische Verhältnisse, die zwischen Beteiligten außerhalb des Diskurses gelten, in diesem selbst nur keine Auswirkungen zeitigen oder aber gar nicht artikuliert werden dürfen? Benhabib scheint der letzteren Interpretation zuzuneigen, denn sie sieht hier eine Ähnlichkeit mit dem „Schleier des Nichtwissens" bei Rawls und damit einen Schwachpunkt des Habermasschen Ansatzes, mit dem sie sich sonst gut identifizieren kann.84
Vgl. Benhabib 1982.
Klar dürfte sein, daß Ausblendungen dieser Art, wären sie wirklich erforderlich, höchst negative Folgen zeitigen könnten, dann nämlich, wenn mit den Asymmetrien positive Aspekte verknüpft sind. Tatsächlich kann, eben positiv gesehen, Zugang zu Macht heißen, daß es um Verantwortung geht, die übernommen worden ist, und ein solches Attribut müßte, sofern es hinsichtlich des vorliegenden Kontextes relevant ist, sicherlich als Thema in den Diskurs einbezogen werden. Ansonsten müßte es heißen, daß ein Diskurs besser mit Menschen durchführbar ist, die distanzierte Beobachter - auch von sich selbst - sind, als mit solchen, die sich als engagierte Beteiligte und Betroffene eingeben möchten.
Aus dem eben Gesagten dürfte noch nicht unbedingt klar geworden sein, ob damit nun wirklich auch das in diesem Abschnitt eigentlich anvisierte Thema, nämlich das einer Anknüpfung am Besonderen eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens, das sich im praktischen Bewußtsein niederschlägt, angesprochen ist. Bei Schwemmer fanden wir einen Hinweis auf die Bedeutung der Identität von Individuen, die immer nicht nur einen biographischen, sondern auch einen kulturellen Hintergrund hat. Betrifft aber das von Benhabib thematisierte Besondere die gemeinschaftlichen, regelhaften Aspekte einer in einem weiteren Rahmen intersubjektiv geteilten Lebenswelt? Oder betrifft es vielmehr das einmalig Privat-Persönliche? Je nachdem ist denkbar, daß die von ihr geforderte Verallgemeinerung aus der konkreten Situation heraus zu leisten oder nicht zu leisten ist. Es ist möglich, wie Nancy Fraser dies tut,85
Vgl. Fraser 1986. S. auch den Aufsatz von Susanne Lang 1991, in dem die Ansätze von Benhabib und von Fraser kommentiert und verglichen werden.
Benhabibs Anliegen so zu interpretieren, daß es weniger auf das Gemeinschaftliche, sondern eher auf das Persönliche zeigt. Trifft diese Interpretation zu, ist zwar die Relevanz der Benhabibschen Ausführungen für das gegenwärtige Thema gemindert, aber es wäre dann auch daran zu denken, daß das an persönlichen Situationen beteiligte Subjektive auf die tiefere Ebene des Unbewußten verweist, auf der wiederum Kollektives von fundamentalerer Bedeutung angesiedelt ist, ein Punkt, der im nächsten Abschnitt (3.4) noch aufgegriffen wird.
Nancy Fraser jedenfalls geht der Vorschlag von Benhabib zu weit. Im Anschluß an Kritikpunkte, die schon verschiedentlich auch an Gilligan gerichtet worden sind, sagt sie, Benhabib hypostasiere die alltäglich-interaktive Dimension von Moralität, bei der es um mehr oder weniger intime, persönliche Beziehungen gehe. Dies sei für weniger intime Interaktionszusammenhänge etwa politischer und ökonomischer Art kaum geeignet. Fraser versucht, diesem Problem mit einer „Diskursethik der Solidarität" zu begegnen: Es soll in der Begegnung mit andern Individuen weniger um Anteilnahme und Fürsorge gehen, sondern darum, sie je nachdem als Angehörige einer andern sozialen oder kulturellen Gruppe wahrzunehmen und auch ernst zu nehmen. Solche Interaktionen sind weder durch Normen der Intimität, noch durch formale Regeln geleitet, sondern durch Normen der Solidarität. Es geht weniger um die Inklusion des sog. „Privaten", sondern vielmehr um das Problem kollektiver Zugriffsmöglichkeiten auf die „soziokulturellen Mittel der Interpretation und Kommunikation". Auch die Frauen sollten diese haben.
Der Vorschlag von Fraser ist im Zeitalter der multikulturellen Gesellschaft, aber auch von Fremdenhaß, zweifellos zu beherzigen. Sonst trägt der Versuch der Orientierung am Partikulären jederzeit die Gefahr der Verabsolutierung in sich. Die Erfahrung zeigt ja auch, wie Schwemmer betont, daß die Sicherung der Identität vielerorts mit aktiver und zum Teil sogar mörderischer Intoleranz verbunden ist. Auch er plädiert deshalb für ein Element, das ein Überschreiten der Verstehensgrenzen ermöglicht, und als Korrektiv eingesetzt werden kann: „Die moralische Sicherung der Identität durch das ‚rechte' Verhalten ist eine Weise des Lebenkönnens im Fremden oder, wie man durchaus auch sagen kann, im eigentlich Unverständlichen."86
Schwemmer 1992, 18.
Dieser Weg des Überschreitens müßte aber nach Schwemmer ein nach-mythischer Weg sein, denn es seien gerade identitätsstiftende Geschichten, die immer wieder das Trennende erzeugt hätten.87
Ist mit dieser Aussage die Bedeutung der oben rapportierten Geschichte, wie ein Hopi-Rat zu seiner Entscheidung kam, in Frage gestellt? Ich glaube kaum, denn es kommt ganz auf die Situation an. Im Fall der Hopi hat das „Trennende" wohl bewirkt, daß ihre Kultur bisher noch schlecht und recht am Leben geblieben ist.
Im Gegensatz dazu benötige jeder Mensch die Entwicklung einer Identität in Koexistenz und Kooperation mit andern Identitäten, aus der sich eine Moral der Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebensformen, sozusagen eine Moral zwischen den Identitäten, entwickeln könne. Es wäre dies eine Moral, die auch auf Gerechtigkeit gründen könnte, aber nicht eine, die nur in einem homogenisierten Feld Bestand haben, sondern eine, die auch Ungleiches zulassen würde.
Eine ganz andere Frage ist die, ob eine Dimension von Gemeinschaft, an der die postulierte Anknüpfung vollzogen werden könnte, beim heutigen Stand unserer Zivilisation überhaupt noch vorhanden ist. Aus der negativen Beantwortung dieser Frage ist in den achtziger Jahren in Nordamerika eine Denkströmung entstanden, die explizite Forderungen nach einer Reetablierung des Gemeinschaftlichen aufstellt. Sie hat mittlerweile unter dem Sammelbegriff „Kommunitarismus" auch in der deutschsprachigen Diskussion Eingang gefunden.88
Vgl. Christel Zahlmann 1992 und Axel Honneth 1993.
Es geht dabei um eine durch Beiträge aus der Philosophie, der Soziologie und der Politologie alimentierte Kritik an Theorie und Realität eines als übersteigert empfundenen Liberalismus. Im Hintergrund steht die mit „der Heraufkunft der kapitalistischen Gesellschaft" entstehende „Gefahr eines Verlustes von Erlebniswelten und Erfahrungsformen ..., die an die Voraussetzung der Existenz von sittlich integrierten Gemeinschaften gebunden sind."89
Honneth 1992, 16.
Die zentrale These besagt, „daß die entscheidenden Probleme der Gegenwart nur in dem Maße vollständig in den Blick rücken können, in dem wir uns wieder auf den Begriff der Gemeinschaft zurückbeziehen ...."90
Honneth 1992, 17.
Im kommunitaristischen Diskurs gibt es im übrigen keine Einheitlichkeit, sondern verschiedene Richtungen. Die vielleicht strengste Formulierung vertritt Alasdair MacIntyre, der ein totales Scheitern des Projektes der Aufklärung diagnostiziert: Unser moralischer Diskurs ist in totaler Unordnung, weil wir mit dem Verlust der metaphysischen Grundierung einer wesentlichen Komponente verlustig gegangen sind. Im aristotelischen Verständnis ist die Stellung des Menschen in der Welt durch drei Komponenten beschrieben, die aufeinander bezogen sind: „human-nature-as-it-happens-to-be (human nature in its untutored state)", „human-nature-as-it-could-be-if-it-realized-its-telos", und eine Vorstellung, „which enable men to understand how they make the transition from the former state to the latter."91
MacIntyre 1985, 52-53. Wie wir in Abschnitt 2.3 gesehen haben, entspricht das Denken von Aristoteles einer besonders fortgeschrittenen Version des Bewußtseinszustandes, den wir in Anlehnung an Gebser „mental I" genannt haben. Dabei geht es darum, auf der Ebene des praktischen Bewußtseins gemachte kulturelle Erfahrungen der Vergangenheit explizit zu machen, was mit Hilfe des „Kopfes" geschieht. Die Vorstellungen kosmischen Charakters, die damit verbunden sind, verweisen aber gleichzeitig auch auf die Mitbeteiligung des „Herzens" bzw. des Unbewußten. So gesehen hat der Rückgriff auf Aristoteles eine weiterreichende Bedeutung als nur die der Anbindung am Gemeinschaftlichen.
Da heute behauptet wird, wir könnten nichts zum Thema menschliche Wesensverwirklichung sagen, fehlt die Komponente des Telos, und das Ganze fällt in sich zusammen. Dieser Leere ist, so Honneth, mit einer Wiedereinbindung in gemeinschaftliche und sinnstiftende Wertbindungen zu begegnen, da ohne eine solche auch heute die Freiheit von menschlichen Subjekten nicht sinnvoll zu denken ist.92
Vgl. Honneth 1992, 20-21. Daß Freiheit und Bindung sich nicht gegenüber stehen, sondern zusammengehen, formuliert Annemarie Pieper so: „Das Leben in einer Gemeinschaft ist regelgeleitet. Die Notwendigkeit von Regeln bedeutet nicht Zwang oder gar Reglementierung, vielmehr signalisiert sie eine Ordnung und Strukturierung von Praxis um der größtmöglichen Freiheit aller willen. Ein regelloses Leben ist nicht menschlich" (Pieper 1991, 14).
Bisher haben wir feministische Positionen als solche kennen gelernt, die in der einen oder andern Form auf Verlorenes oder Unterdrücktes hinweisen, auf Komponenten, die mit den evolutionär älteren Bewußtseinsebenen zu tun haben. Wenn nun der Kommunitarismus etwas Entsprechendes fordert, könnten wir an sich eine Konvergenz von Meinungen erwarten. Allerdings darf es andererseits auch nicht überraschen, daß zwischen Kommunitarismus und Feminismus ein ambivalentes Verhältnis herrscht. Insofern es nämlich beim ersteren nicht nur darum geht, Erfahrungen des menschlichen Zusammenlebens zu berücksichtigen, Erfahrungen, die Frauen auch in der heutigen Situation sowie immer mitbringen, sondern um den Versuch einer aktiven Wiederherstellung gemeinschaftlicher Strukturen, ist die Gefahr eines Rückfalls in frauenfeindliche Verkrustungen gegeben. Es ist eine Gefahr, die Beate Rössler beunruhigt:93
Vgl. Beate Rössler 1992.
Zwar ist das autonome liberale Individuum, das sich an abstrakten und universalistischen Prinzipien zu orientieren vermag, ein Produkt männlicher Wertvorstellungen. Und gelungenes Leben kann sich nur in der Besonderheit von Gemeinschaften, die sich konkrete Fürsorge zu ihrer Aufgabe machen und in denen sich Identitäten konstituieren können, herausbilden. Tatsächlich ist ja die Idee des autonomen Individuums in dem Sinne eine Fiktion, als auch es irgendwo sozialisiert werden muß, sonst kann es gar kein Individuum werden. Wenn aber Gemeinschaft bedeuten soll, daß gemeinsame Werte wichtiger sind als Rechte der Mitglieder, und wenn die Werte traditionalen Charakter haben sollen, könnte dies einen Schritt rückwärts bedeuten, statt einen Schritt vorwärts mit aber einer gleichzeitigen Verankerung im Rückwärtigen. Die Interessen von Frauen könnten dabei massiv unter die Räder kommen.
Die genannte Beschwörung eines aristotelisch interpretierten Lebenssinnes durch MacIntyre müßte in dieser Hinsicht zweifellos kritisch unter die Lupe genommen werden, denn in der Originalversion dieser Interpretation waren ja gerade die Frauen von diesem Lebenssinn ausgeschlossen. Es müssen aber auch in der Gemeinschaft Individuen ein solches Maß an Autonomie haben, daß sie selbstverantwortlich handeln können, und die gemeinschaftlichen Strukturen müssen, auch im intimen Bereich, Gerechtigkeit gewährleisten können. In der Konsequenz postuliert die feministische Theorie eine mittlere Position zwischen der Idee der Gemeinschaft und der Idee der individuellen Freiheit. Das Ziel ist also eine Wiederanbindung des extremen Individualismus an traditionelleren Lebensformen und nicht eine Entwicklung in Richtung des andern Extrems. Es besteht in einer Form von Postkonventionalismus, die nicht trennend wirkt, sondern integrierend.94
Hier war nun ausschließlich von einem an der sozialen Welt orientierten, also einem moralischen Bewußtsein die Rede, das sich wieder in der unmittelbaren Praxis des Zusammenlebens verankern sollte. Ich möchte ergänzend darauf hinweisen, daß, sofern dies mit der genannten Praxis nicht ohnehin schon verbunden ist, für eine umweltverträgliche Gesellschaft zweifellos auch ein auf umweltbezogene Fertigkeiten basierendes praktisches Bewußtsein gefördert werden sollte.
Die Ebene des praktischen Bewußtseins, an dem das menschliche Leben in den genannten Ansätzen verstärkt wieder angebunden werden soll, entspricht natürlich genau dem, was bei Kohlberg und Habermas zwar als Vorstufe bzw. Quelle für einen folgenden Schritt als wichtig erachtet wird, aber doch letztlich durch Universalisierung bzw. durch kommunikative Rationalisierung überwunden werden muß. Daß mit einer Wiederbelebung dieser Ebene die Gefahr verbunden ist, daß das durch die Aufklärung eben überwunden Geglaubte, nämlich das als „einzig richtig" betrachtete Partikuläre, wieder aufersteht, ist zweifellos gegeben. Mit dem im nächsten Abschnitt besprochenen zweiten Integrationsschritt zur Ebene des Unbewußten und des Körperlichen kann dieses Besondere aber wieder relativiert werden, allerdings nur dann, wenn es gelingt, das Universelle darin zu finden.
3.4 Rückversicherung II: Beim Kosmisch-Allgemeinen (S.244-249)
4. Zum Ausklang: ... die Zukunft weiblich (S.249-255)
Literatur (S.255-264)

Mensch und Lebensraum: Eine Geschichte der Entfremdung. Ein Essay in evolutionärer Bewusstseinsökologie

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Dieter Steiner (Hrsg.): Mensch und Lebensraum. Fragen zu Identität und Wissen. Westdeutscher Verlag, Opladen1997, S. 41-120.
1. Einleitung (S. 40-43)
2. Unten und Oben, Innen und Aussen: Die bewusstseinsökologische Grundsituation (S.43-54)
2.1 Das Kreuz: Die vier Pole der Orientierung (S.43-46)
2.2 Natur und Geist: Partner oder Widersacher? (S.46-49)
2.3 Eine mittlere Ebene als Vermittlungsstelle: Das praktische Bewusstsein (S.49-54)
3. Welt, Mitwelt, Umwelt: Die drei Bewusstseinsebenen und ihre Beziehungsfähigkeit (S.54-67)
3.1 Die Welt und Ich (S.56-60)
3.2 Ich und Du, Du und Ich (S.60-63)
3.3 Ich und die Welt, Ich und Es (S.63-67)
4. Fische, Paviane, Menschen: Evolutionäre Hintergründe (S.68-86)
4.1 Identität und Wissen als zwei divergierende Entwicklungstendenzen (S.68-73)
4.2 Holistisch-kontemplative Lebensweise (S.73-76)
4.3 Sozial-kommunikative Lebensweise (S.77-80)
4.4 Subjektiv-kognitive Lebensweise (S.80-86)
4.4.1 Die archaische Stufe138
Vgl. Günter Dux 1990, 93.
(S.83)
4.4.2 Die magische Stufe139
"Nach Durchmessung der eigenen Seele ... findet der mythische Mensch den andern Menschen ... Auf dem Umweg über das Erwachen zu sich selber erwacht das Du ...," sagt Gebser (1949, 114).
(S.83-84)
4.4.3 Die mythische Stufe140
Vgl. Gebser 1949, 123 ff.
(S.84)
4.4.4 Die mentale Stufe143
Ich verwende hier den Begriff der "Umwelt" in Gegenüberstellung zu dem der "Welt" im gleichen Sinne, wie dies Picht tut (siehe unten). Nach der in dieser Arbeit angestrebften Terminologie müssten wir genauer davon reden, dass es um eine Vergewaltigung der Mitwelt geht und dass diese erst durch diese Vergewaltigung zur blossen Umwelt wird.
(S.85-86)
5. Vergewaltigung, Verdrängung, Veränstigung: Zu den heutigen Problemen (S.87-98)
5.1 Diskursives Bewusstsein: Die Welt vergewaltigt die Umwelt146
In Steiner 1996a habe ich zu diesem Phänomen ausführliche Stellung bezogen. Ich stelle dabei dem Trend zur Globalisierung die Notwendigkeit einer Regionalisierung entgegen. Im gleichen Band widerspricht Rolf Weder (1996a) als Vertreter der Mainstream-Ökonomie dieser Ansicht. Es sei im Gegenteil die globale Marktwirtschaft, die dank internationaler Arbeitsteilung und der Ausnutzung komparativer Vorteile einen effizienten Ressourcengebrauch und damit eine Lösung der ökologischen Probleme ermögliche. Zusätzlich zur Darstellung der eigenen Position liefern die beiden Autoren auch eine kurze gegenseitige Kritik derselben (Steiner 1996b und Weder 1996b).
(S.87-90)
5.2 Praktisches Bewusstsein (S.90-94)
5.3 Das Unbewusste: Angst vor ihm und Angst mit ihm (S.94-98)
6. Leere und Fülle (S.98-113)
6.1 Ökologisch relevante Charakteristikia der buddhistischen Bewusstseinslehre (S.99-106)
6.2 Überbrückende Hinweise auf einige westliche Ansätze (S.106-113)
6.2.1 Zu Haben und Sein, zu Machen und Wirken, zum kleinen und zum grossen Selbst (S.107-111)
6.2.2 Zu Kind und Kunst (S.111-113)
Literatur (S. 113-120)