Druckversion  ·  Kontakt

Bewusstsein

Vernünftig werden heißt weiblich werden! Beitrag zu einer evolutionären Bewußtseinsökologie

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Wolfgang Zierhofer und Dieter Steiner (Hrsg.): Vernunft angesichts der Umweltzerstörung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S.197-264.
1. Einleitung: Die Krise ist männlich ... (S. 197-205)
2. Zum Fortgang der Desintegration (S.205-218)
2.1 Archaisches und Magisches Bewusstsein (S.205-207)
2.2 Mythisches Bewusstsein (S.207-210)
2.3 Mentales Bewusstsein I (S.210-214)
2.4 Mentales Bewusstsein II (S.214-218)
3. Wege zur Reintegration (S.218-249)
3.1 Vorversicherung I: Bei einer postkonventionellen Gerechtigkeitsmoral (S.219-227)
Ich beginne mit der Betrachtung der Theorie einer Gerechtigkeitsmoral, wie sie von Lawrence Kohlberg erarbeitet worden ist.1
S. Lawrence Kohlberg 1981.
Genau genommen haben wir es dabei nicht mit einem Vorschlag zu tun, der aus Anlaß der Krise entstanden wäre, sondern damit, daß eine gesetzmäßige Entwicklung des menschlichen Individuums postuliert wird, die in diesem sowieso schon angelegt ist. Kohlberg präsentiert nämlich ein universalistisches Modell der menschlichen Moralentwicklung, womit er an frühere Arbeiten von Jean Piaget anknüpft.2
Das Kohlbergsche Modell ist komplementär, indem es sowohl auf empirisch-psychologischen wie auch auf philosophischen Elementen aufbaut. Kohlberg (1971: 223) beschreibt dies so: „Science ... can test whether a philosopher's conception of morality phenomenologically fits the psychological facts. [However] ... science cannot go on to justify that conception of morality as what morality ought to be." Das Modell erhebt den Anspruch, sowohl für die Ontogenese menschlicher Individuen wie auch für die Phylogenese der Menschheit zu gelten.
Es umfaßt eine strukturelle Folge von drei Ebenen, die in je zwei Stufen unterteilt sind:3
Nach Detlef Garz 1989, 156. Für eine weitergehende Kommentierung der Kohlbergschen Struktur der moralischen Entwicklung s. Garz 1989, 154ff. und Walter Reese-Schäfer 1990, 23ff.
Präkonventionelle Ebene: Egozentrische Orientierung
·
Stufe 1: An Strafe und Gehorsam orientiert
·
Stufe 2: An instrumentellen Zwecken und am Austausch orientiert
Konventionelle Ebene: Orientierung an sozialen Beziehungen
·
Stufe 3: An interpersonalen Erwartungen, Beziehungen und an Konformität orientiert
·
Stufe 4: An der Erhaltung des sozialen Systems orientiert
Postkonventionelle Ebene: Orientierung an Prinzipien
·
Stufe 5: Am Sozialvertrag orientiert
·
Stufe 6: An universellen ethischen Prinzipien orientiert
Die letzte Stufe setzt erstens eine Fähigkeit der Rollenübernahme voraus, d.h. des Einfühlens in die Standpunkte der anderen, und zweitens ein Vermögen, diese Standpunkte unter der Vorstellung, daß niemand der Beteiligten weiß, wer er oder sie ist, zu überprüfen. Das Resultat sind reversible Ansprüche an Gerechtigkeit. Als Entwicklungstheorie, die auf den Erwerb eines Gerechtigkeitsdenkens durch autonome Individuen zielt, stellt sich damit Kohlbergs Schema an die Seite der Vertragstheorie der Gerechtigkeit von John Rawls.4
S. John Rawls 1979. Das „Nichtwissen-wer-man-ist" heißt bei ihm „Schleier des Nichtwissens": „Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, daß dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit ein Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung" (Rawls 1979, 29).
Obschon sich die von Kohlberg postulierte Entwicklung auf den Bereich der Moral bezieht, sind mit seinen Stufen doch Typen von Bewußtsein angesprochen, die eine weiterreichende Bedeutung haben. Es liegt relativ nahe, zwischen der Folge präkonventionell, konventionell und postkonventionell und den drei Bewußtseinsebenen des Modells von Figur 1 eine annähernde Parallelität zu sehen. Hinsichtlich unserer Frage nach der Möglichkeit der Integration dieser Ebenen ist dies deshalb von Interesse, weil eine höhere Stufe in Kohlbergs Schema eine niedrigere nicht verdrängt, sondern in sich einschließt. Das heißt dann aber, daß mit Bezug auf Figur 1 das Potential einer Bewußtseinsintegration im Menschen schon angelegt ist, sofern jedenfalls die Kohlbergsche Tiefenstruktur eine reale Existenz hat. Dies ist zunächst ein Anlaß für Hoffnung. Aber Kohlberg selbst wäre wahrscheinlich der letzte gewesen, der gesagt hätte, wir könnten ruhig abwarten, bis sich die notwendige Bewußtseinsentwicklung aus sich heraus selbsttätig eingestellt habe. Seine Theorie ist ja ebenso gut eine normative Vorgabe, und aus ihr müßte gefragt werden, wie die Entwicklung aktiv zu fördern ist. Allerdings: Die Art und Weise, wie Kohlberg seine postkonventionelle Ebene charakterisiert, läßt starke Zweifel aufkommen, ob damit wirklich ein integrierter Bewußtseinszustand beschrieben ist,5
Dies gilt insbesondere für Stufe 6, die von Reese-Schäfer wie folgt umschrieben wird: „Das Richtige wird definiert als Gewissensentscheidung in Übereinstimmung mit selbstgewählten Prinzipien. Diese Prinzipien richten sich nach logischer Richtigkeit, Universalität und Konsistenz. Sie sind abstrakt, wie z.B. die 'Goldene Regel' oder der 'kategorische Imperativ', es sind also keine konkreten Regeln wie z.B. die zehn Gebote." (Reese-Schäfer 1990, 28).
ein Zweifel, der durch bestehende Kritik am Kohlbergschen Schema genährt wird. Hinsichtlich der im Zusammenhang mit Figur 1 genannten Beziehungstypen müßte ein integriertes Bewußtsein fähig sein, eine Ich-Welt-, eine Ich-Du- und eine Ich-Es-Orientierung miteinander zu kombinieren. In Tat und Wahrheit scheint aber viel eher ein verstandeslastiger - und damit männlich geprägter - Bewußtseinszustand angesprochen zu sein, in dem die Gefahr eines einseitigen Abgleitens in eine reine Ich-Es-Orientierung immer vorhanden ist. Eine Ausrichtung an abstrakten Regeln, die symmetrische Gerechtigkeitsansprüche definieren wollen, ist zwar ein Versuch, entscheidungsbedürftige Aspekte von Ich-Du-Beziehungen in formalisierter Weise anzugehen. Die Echtheit von Ich und Du, die nur die direkte Begegnung gewährleistet, ist damit aber in Frage gestellt. Im schlechtesten Fall kann, um es metaphorisch auszudrücken, ein solches Vorgehen nur Ich-Ich-Beziehungen regeln.
Tatsächlich fällt nun auf, daß Kohlberg, wie schon vor ihm Piaget, seine theoretischen Vorstellungen aus einer einseitigen empirischen Studie von Individuen nur männlichen Geschlechts entwickelt hat. Der von feministischer Seite erhobene Vorwurf, sein Schema beziehe sich nur auf eine Teilwirklichkeit, scheint berechtigt. Carol Gilligan,6
Die Ausführungen in diesem und dem nächsten Absatz beruhen auf Carol Gilligan 1991.
eine frühere Mitarbeiterin von Kohlberg, wunderte sich bei der Anwendung seiner Testmethoden auf Mädchen und Frauen, daß diese im Vergleich zu männlichen Altersgenossen regelmäßig weniger weit entwickelt zu sein oder gar zu regredieren schienen.7
Nach Gilligan entsprechen die Urteile von Frauen häufig der dritten Stufe des sechsteiligen Schemas von Kohlberg (Gilligan 1991, 29). Diese aber beschreibt Reese-Schäfer so: „Übereinstimmungen zwischen Personen (Good Boy, Nice Girl). Gutes Benehmen gefällt oder hilft anderen und wird von ihnen geschätzt." usw. (Reese-Schäfer 1990, 26).
Aufgrund späterer eigener Untersuchungen in Verknüpfung mit Überlegungen zu den Sozialisationsbedingungen (siehe unten) gelangte sie zur These, daß es zwei verschiedene Entwicklungspfade gibt, einen männlichen, der auf eine individuenzentrierte Moral der Rechte und der Gerechtigkeit, und einen weiblichen, der auf eine personenverbindende Moral der Verantwortung und der Fürsorge tendiert.8
In Murphy und Gilligan (1980) wird dieser Gegensatz als Unterschied zwischen einem „postkonventionellen Formalismus" und einem „postkonventionellen Kontextualismus" apostrophiert. Damit ist angedeutet, daß die weibliche Entwicklung nicht auf der konventionellen Ebene stecken bleibt, sondern ebenso wie bei den Männern zu einer postkonventionellen Moral, von allerdings eigenständiger Form fortschreitet.
Entsprechend entsteht ein moralisches Problem aus männlicher Sicht bei einem Konflikt zwischen konkurrierenden Rechten, aus weiblicher Sicht bei einem solchen zwischen einander widersprechenden Verantwortlichkeiten. Männer orientieren sich eher nach positionsbezogenen Überlegungen und suchen zur Lösung von Problemen nach Regeln, die nach Möglichkeit von spezifischen Kontexten abstrahierbar und verallgemeinerbar sind. Frauen dagegen bevorzugen eine personenbezogene Orientierung und Denkweisen, die kontextbezogen, narrativ, nicht formal und nicht abstrakt sind, womit sie Probleme im Rahmen der jeweils vorhandenen konkreten Beziehungen abwägen.9
So war z.B. typischerweise schon die Aussage eines 11-jährigen Knaben, moralische Dilemmatas seien „eine Art mathematisches Problem mit Menschen", während ein mit der gleichen Problematik konfrontiertes gleichaltriges Mädchen an Kommunikation zwischen den Beteiligten als Weg zur Konfliktlösung glaubte (Gilligan 1991, 39).
Das männliche moralische Empfinden hat einen passiven Charakter, denn es genügt eine gegenseitige Anerkennung von Rechtsansprüchen, während das weibliche einen aktiven Anteil am Aufbau und an der Aufrechterhaltung von anteilnehmenden Beziehungen fordert.10
Für die Diskussion dieses Unterschieds anhand des Falles der hirntoten schwangeren Frau, die in der Universitätsklinik Erlangen im Herbst 1992 zum „Ernährungs-Apparat des werdenden Kindes umfunktioniert" wurde s. Andreas Kuhlmann 1993.
Eine Erklärung für diesen Unterschied findet Gilligan in den in der westlichen Gesellschaft immer noch vorherrschenden Sozialisationsbedingungen. Es sind nach wie vor die Frauen, die in erster Linie für die Kinder sorgen. Dadurch ergeben sich für Mädchen und für Knaben unterschiedliche soziale Umwelten, und diese wirken sich auf die Persönlichkeitsentwicklung aus. Der Unterschied liegt in der Gleichgeschlechtlichkeit der Mutter-Tochter-Beziehung gegenüber der Gegengeschlechtlichkeit der Mutter-Sohn-Beziehung. Ein Mädchen kann sich beim Erwachsenwerden weiterhin stark mit seiner Mutter identifizieren und muß sich nicht in dem Maße von ihr ablösen, wie das von einem Knaben erwartet wird, der so wie der Vater werden sollte.11
Für eine Diskussion dieser Unterschiede aus der Sicht der Psychoanalyse siehe Nancy Chodorow 1986.
Im Resultat ist Weiblichkeit durch Bindung definiert und durch Trennung bedroht, während Männlichkeit mit Ablösung identifiziert ist, der eine allzu große Intimität gefährlich wird. Entsprechende typische Unterschiede können schon bei Kinderspielen ausgemacht werden, indem die Spiele von Mädchen kooperativer, die von Knaben dagegen stärker konkurrenzorientiert verlaufen. In der Welt der Erwachsenen ergibt sich dann der oben beschriebene Kontrast zwischen einer weiblich und einer männlich geprägten Form des moralischen Urteils.12
So gesehen kann es auch nicht überraschen, wenn im Modell der bürgerlichen Familie von Parsons und Robert F. Bales 1955 eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung auftritt: Dem Vater kommt eine instrumentelle Rolle zu, die durch die Aufgabe gekennzeichnet ist, Objekte in der Außenwelt verfügbar zu machen, der Mutter eine expressive Rolle, die durch die Erhaltung von Gefühlsbindungen charakterisiert ist. Nicht entschuldigt sind damit die „Natürlichkeit", die die genannten Autoren diesen Rollen unterstellen, und ihre Forderung nach sozialer Konformität mit diesen Stereotypen auch außerhalb der Familie (s. dazu Barbara Zahlmann-Willenbacher 1979).
Die immer noch vorherrschende Sozialstruktur, die der Frau eine Orientierung innerhalb, dem Mann außerhalb des Haushalts zuweist, bedingt spezifische Umstände der Sozialisierung und diese ermöglicht eine grundlegende Polarisierung des Bewußtseinszustandes der Geschlechter.
In einer Antwort auf Gilligan geben Lawrence Kohlberg, Charles Levine und Alexandra Hewer zu, daß die Betonung von Gerechtigkeit tatsächlich eine Einseitigkeit darstellt und das, was die moralische Domäne ausmachen kann, nicht ausfüllt.13
S. Kohlberg, Charles Levine und Alexandra Hewer 1983, 20f.
In diesem Sinne bekommt eine Beschäftigung mit einer Gilliganschen Moral von Fürsorge und Verantwortlichkeit die Bedeutung einer Ergänzung. Kohlberg u.a. verneinen aber, daß es sich dabei um zwei verschiedenen Moralitäten handle. Sie sehen eine moralische Dimension, auf der verschiedene Orientierungen eingeordnet werden können. Dabei nimmt eine abstrakt formulierte universale Gerechtigkeitsmoral das eine Ende ein, während eine auf kontextorientierte partikularistische Beziehungen ausgerichtete persönliche Moral am andern Ende steht. Insoweit wir es hier mit einer Spannweite von Fragen des Gerechten bis zu Fragen des „guten Lebens" (im aristotelischen Sinne14
Die moralischen Fragen, die sich stärker auf die Welt der Frauen beziehen, als solche des „guten Lebens" zu bezeichnen, ist eigentlich absurd, weil ja die diesbezüglichen Überlegungen von Aristoteles das politische Leben betrafen, von dem die Frauen gerade ausgeschlossen waren!
) zu tun haben, behält aber das Gerechte den Vorrang vor dem Guten.15
Vgl. Seyla Benhabib 1989, 461.
Moralische Entscheide in Relationen spezifischer Art setzen Gerechtigkeitsverpflichtungen immer voraus. Andererseits sind die letzteren für Situationen der ersteren Art nicht hinreichend. Eine Fürsorgemoral hat so gesehen nicht einen alternativen, sondern einen supplementären Charakter. Kohlberg u.a. wehren sich vehement gegen den Vorwurf des Geschlechter-Bias in ihrer Theorie und empirischen Erhebungen. Sie weisen auf Untersuchungen anderer Autoren an Erwachsenen hin, in denen zwar Unterschiede im Sinne eines moralischen Entwicklungsvorsprunges der Männer gegenüber den Frauen auftraten, Unterschiede, die aber verschwanden, wenn die Variablen für Differenzen in Ausbildungsniveau und Beschäftigungsstatus kontrolliert wurden.16
Bei der Diskussion um die Kohlberg-Gilligan-Kontroverse wäre auch zu berücksichtigen, daß Kohlbergs Empirie aus Antworten zu Fragen bestehen, die hypothetische Situationen ansprechen, während Gilligan zum Teil das Entscheidungsverhalten von Frauen untersucht hat, die mit realen Situationen (Schwangerschaftsabbruch, ja oder nein) konfrontiert waren.
Mir scheint, ein Streit um die Frage, ob nun die beobachteten Unterschiede zwischen einer weiblichen und einer männlichen Moral auf unterschiedliche Bedingungen der primären oder aber solche der sekundären Sozialisation zurückgehen, ist ziemlich müßig. Plausibel scheint beides: Die Annahme, die erstere könnte gar keine Rolle spielen, ist kaum glaubhaft, jedenfalls wenn die PsychologInnen mit ihrer Betonung der Bedeutung der Kindheit recht haben. Und die letztere dürfte mit der ersteren immer in einem gewissen Zusammenhang stehen; Biographien zeichnen sich meist durch Kontinuitäten aus. Tatsache letztlich ist auf alle Fälle, daß die spezifische Art der vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen unterschiedliche Biographien von Frauen und Männern begünstigt oder bedingt. Wenn nun Gertrud Nunner-Winkler, die eine Gegenposition zu Gilligan einnehmen möchte, die Differenzen mit der Schärfe bzw. Unschärfe von Handlungskontexten, in denen sich Männer und Frauen üblicherweise befinden, in Verbindung bringt, scheint mir dies nicht etwas grundlegend Anderes, sondern ein bestimmter Aspekt der eben genannten strukturellen und biographischen Bedingungen zu sein. Nunner-Winkler sagt: „Wenn Frauen mehr Fürsorglichkeit zeigen, dann nicht, weil sie die Fähigkeit haben, Kinder zu gebären, und nicht, weil sie aufgrund einer engeren frühkindlichen Mutteridentifikation ein beziehungs- und fürsorgeorientiertes Selbst aufgebaut haben, sondern weil sie häufiger diffuse Rollen innehaben."17
Gertrud Nunner-Winkler 1989, 176.
Aber eben: Eine diffusere Orientierung der Frauen, bei der es eine Vielfalt von verschiedenen Handlungskontexten gibt, gegenüber einer spezifischeren Orientierung der Männer, bei denen die Kontexte eindeutiger strukturiert und auf wenige Aspekte fokussiert sind, hängt wiederum mit dem Faktum zusammen, daß Frauen noch häufiger vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, im Bereich der Hausarbeit, die Männer umgekehrt im Bereich der Berufsarbeit tätig sind.
Nunner-Winkler möchte also die Kontextabhängigkeit der moralischen Orientierung betonen, und sie kritisiert Gilligan dafür, daß sie hier eine geschlechtsspezifische Differenz sehe. Dieser Vorwurf ist allerdings nicht haltbar, da Gilligan eine solche gar nie in Anspruch genommen hat.18
Im Gegenteil, sie sagt klar: „Die andere Stimme, die ich zum Ausdruck bringe, ist nicht an ein Geschlecht gebunden, sondern durch ihre Thematik bestimmt." Allerdings kann, wie sie betont, das folgende auch nicht bestritten werden: „Daß sie den Frauen gehört, ist ein empirischer Sachverhalt" (Gilligan 1991, 10).
Von Interesse ist aber, daß Nunner-Winkler aufgrund von eigenen Untersuchungen zum Schluß gelangt, daß Unterschiede im Urteil zwischen weiblichen und männlichen Individuen offenbar auch aus Differenzen im Grad der persönlichen Betroffenheit, die durch ein moralisches Dilemma ausgelöst wird, zustande kommen können. In einer Untersuchung von 14- bis 22-jährigen weiblichen und männlichen Jugendlichen wurden Fragen betreffend der Legitimität von Schwangerschaftsabbrüchen und von Wehrdienstverweigerung gestellt. Der Befund: Bei der ersten Frage reagierten die männlichen Individuen tatsächlich abstrakt und prinzipalistisch, während die weiblichen Befragten Situationsbedingungen in Betracht zogen. Bei der zweiten Frage aber war es umgekehrt.19
S. Rainer Döbert und Nunner-Winkler 1986.
Es scheint also, daß auch die momentane Aktualität eines Kontextes zu Unterschieden im moralischen Urteil führen kann, und daß dabei der Typ von Kontext für Frauen und Männer austauschbar ist. Ist damit Gilligan widerlegt? Kaum. Wenn ich einen Mann (Jungen) nach der moralischen Vertretbarkeit eines Schwangerschaftsabbruches frage, ist dies für ihn völlig hypothetisch; es kann ihn nie am eigenen Leibe betreffen. Wenn ich eine Frau (ein Mädchen) danach frage, und diese Person ist nicht real mit dem Problem konfrontiert, ist es ebenfalls hypothetisch, aber in minderem Maße, denn die Situation könnte in der Zukunft einmal real auftreten. Wenn schließlich weibliche Personen danach gefragt werden, die tatsächlich sich mit diesem Problem auseinandersetzen mußten, wie dies bei Gilligan der Fall war, ist dies nochmals eine ganz andere Situation. Es wäre also nach möglichen Unterschieden in der Art der Betroffenheit zu fragen, die sich aus Untersuchungsbedingungen mit unterschiedlichem Grad der Abstraktheit ergeben.
Schließen sich nun eine Moral der Gerechtigkeit und eine Moral der Fürsorge gegenseitig aus, oder ergänzen sie sich? Ich denke, beides ist richtig. Insofern die erstere einen Standpunkt voraussetzt, der sich aus expliziten Überlegungen ergibt, entspringt sie einem diskursiven Bewußtsein, und insofern die letztere von einem Standpunkt mit einem eher impliziten Charakter ausgeht, der sich in konkreten Beziehungen bildet, hat sie ihre Wurzel im praktischen Bewußtsein. Diskursives und praktisches Bewußtsein aber sind nicht aufeinander rückführbar, denn evolutionär gesehen bildet das erstere ein aus dem letzteren herausgewachsenes emergentes Phänomen mit neuen Eigenschaften. Genau deshalb aber können sie sich auch gegenseitig ergänzen. Dabei wäre zu beachten, daß aus einem wiederum evolutionären Blickwinkel das praktische Bewußtsein aber letztlich einen Rahmen für das diskursive Bewußtsein abgeben sollte. Anders ausgedrückt: Was im letzteren als verallgemeinerbar erscheint, muß sich in den Besonderheiten des ersteren einpassen lassen. Dann kann dieses Allgemeine in echten neuen Einsichten münden. Es ist aber sozusagen antievolutionär, wenn das diskursive Bewußtsein zu Höhenflügen antritt, die den Boden und die Grenzen, die durch das praktische Bewußtsein gegeben sind, aus den Augen verlieren.
Genau hier dürfte das Problem der Kohlbergschen Theorie liegen. Sie ist mit ihrem spezifischen Verständnis der postkonventionellen Entwicklungsstufe genau in Gefahr, diese notwendige Verankerung zu verlieren. Judith Shklar, der eben die Abstraktheit der Moralphilosophien der gerechten Gesellschaftsordnung ein Dorn im Auge ist, kommentiert das Problem auf ihre Weise: Der Fehler liege bei diesen Konstruktionen darin, daß sie meinten, mit der Definition von Gerechtigkeit auch gleich ihre Kehrseite, die Ungerechtigkeit, bestimmt zu haben. Jedoch könne Unrechtserfahrung nicht einfach mit fehlender gesellschaftlicher Gerechtigkeit gleichgesetzt werden. „Vieles entgeht einem, wenn man allein die Gerechtigkeit in den Blick nimmt. Der Sinn für Ungerechtigkeit, die Schwierigkeit, die Opfer der Ungerechtigkeit zu identifizieren."20
Judith Shklar, zitiert in Otto Kallscheuer 1993, 58.
Shklar weist darauf hin, daß die Grenze zwischen schicksalhaftem Unglück und verschuldetem Unrecht nicht eindeutig ist, sondern kulturell relativ. „... die Erfahrung der Opfer, ihre Schreie von Verzweiflung und Wut müssen überhaupt erst zur Sprache kommen, damit diese ... Grenze von Unglück und Unrecht je neu gezogen werden kann."21
Kallscheuer 1993, 58.
Wenn schon die obige Rede von Betroffenheit bei Nunner-Winkler in wenigstens bescheiden-propädeutischem Maße auf die mögliche Bedeutung der Gefühlsebene für die moralische Urteilsfähigkeit hinweist, finden wir bei Shklar den klaren Hinweis, daß die Verankerung dieser Urteilsfähigkeit tatsächlich noch unter das praktische Bewußtsein hinab in das Unbewußte greifen sollte. Marina Fischer-Kowalski möchte sich zur Anwältin einer solchen Auffassung machen, denn durch die Einbeziehung auch des Emotionalen menschlichen Erlebens möchte sie ein vor allem im Weiblichen liegendes Potential der Orientierung reaktivieren. Sie bemängelt, daß sowohl bei Gilligan wie bei Nunner-Winkler handlungsleitende Impulse nur im Bereich der Moral, der verinnerlichten Sollbestimmungen, gesucht werden. Damit werden nach ihr die Möglichkeiten, die in der „Unterentwicklung" der Frau verborgen liegen, gerade verfehlt. Sie fragt: „Wie wäre es, Gilligans Analyse noch einen Schritt radikaler zu denken, nämlich: daß die Besonderheit des ‚Weiblichen' darin besteht, sich in vitalen Angelegenheiten moralischer, oder, noch allgemeiner gesagt, normativer Regelung zu widersetzen? Sich dem Paradigma von Normativität und Moral zu entziehen?"22
Marina Fischer-Kowalski 1989, 179-180.
Sie betont, daß die Erlebnis- und Erfahrungswelt von Frauen historisch wie heute, wegen der mit den Geschlechtern assoziierten Trennung von Privatem und Öffentlichem, grundsätzlich anders ist als die von Männern. „[Die Frauen] waren und blieben ... stärker als Männer spezialisiert auf den Umgang mit unvernünftigen, je besonderen Bedürftigkeiten und Leiden, wie sie das Privatleben mit Kindern und Männern in Fülle beschert und für welche der moralische Diskurs sich als Konfliktlöser nur wenig eignet."23
Fischer-Kowalski 1989, 181.
Fischer-Kowalski sieht hier Empathie als einen Modus handlungsleitender Impulse, der Beziehungen zwischen konkreten Beteiligten wechselseitig regelt und ausgleicht. Für unsere Gesellschaft liegt das Problem darin, daß solche Erfahrungen öffentlich nicht verarbeitet werden. Vergleichbar dem Vorgang der Verdrängung in der individuellen Psyche gibt es hier durch die Ausgrenzung von Erfahrungen einen Prozeß der Blockierung.
Zusammenfassend: Der Verdacht ist nicht auszuräumen, daß die Kohlbergsche Theorie eine männliche Theorie für Männer ist; sie verspricht, etwas Allgemeingültiges vorwärts in der Welt des Geistes zu finden, wobei aber dieser Geist praktisch auf den Verstand reduziert bleibt. Daß damit ein Ziel in der Zukunft angesprochen ist, wird dadurch klar, daß nach Kohlbergs Schätzungen der größte Teil der Erwachsenen in den westlichen Ländern sich auf Stufe 4 (also der zweiten Stufe der konventionellen Ebene) befindet und ein kleiner Teil auf Stufe 5 (der ersten Stufe der postkonventionellen Ebene), während es unklar bleibt, ob Stufe 6 (die zweite Stufe der postkonventionellen Ebene) in der jetzigen Wirklichkeit überhaupt vorkommt.24
Vgl. Reese-Schäfer 1990, 27ff.
Die normative Vorgabe einer solchen Stufe und die postkonventionelle Ebene insgesamt tendieren dazu, traditionale bis archaische Schichten oder Bereiche menschlicher Existenz, mit denen vor allem Frauen noch vertraut sind, mitsamt den entsprechenden Bewußtseinsebenen auszublenden, obschon nach der Theorie eine höhere Stufe die vorangehenden tieferen Stufen einschließt. Die formalistischen Verkürzungen, die mit den Leistungen auf dieser höheren Stufe verbunden sind, stellen sich einer integrativen Interpretation entgegen. Dabei ist allerdings interessant, daß Kohlberg selbst spekulative Überlegungen zu einer möglichen weiteren Stufe in seinem Entwicklungsschema angestellt hat, zu einer Stufe, die eine religiös-metaphysische Fundierung von Moral leisten, also eine Antwort auf die Frage „warum überhaupt moralisch sein?" geben könnte.25
Vgl. Reese-Schäfer 1990, 29ff.
Kohlberg empfand das Fehlen einer kosmischen Verankerung offenbar als Mangel, aber suchte dazu einen Angelpunkt nicht im evolutionär Rückwärtigen, sondern in einer hypothetisch vorausliegenden Art von „Supergeist", eine weitere Illustration für sein Denken in Vorwärtskategorien.26
Wenn wir daran denken, daß die präkonventionelle Ebene des Kohlbergschen Schemas mit ihrer noch stark instinktmäßig geprägten Existenz eigentlich, so wie sie beschrieben ist, einer Ich-Es-Orientierung entspricht und umgekehrt eine Ich-Welt-Orientierung allenfalls im Geistigen einer vorausliegenden 7. Stufe zu finden ist, zeigt sich eine Umkehrung der im Zusammenhang mit Figur 1 genannten Reihenfolge der Beziehungstypen. Darin kommt eine gewisse Vermessenheit der Theorie von Kohlberg zum Ausdruck. Die Vorstellung, eine Vorwärtsentwicklung könne uns wieder mit dem Kosmischen in Verbindung bringen, kann, so scheint mir, höchstens dann richtig sein, wenn eine solche Entwicklung aus einem integrativen Zusammenschluß der verschiedenen Bewußtseinsebenen heraus entsteht.
Das heißt nun aber nicht, daß Kohlbergs Theorie damit keine weitere Beachtung mehr verdient: Sie erhält ihren Wert zusammen mit der an ihr geäußerten Kritik, die Fehlendes anspricht, und sie kann so ergänzt einen ersten Rahmen für eine Diskussion über Möglichkeiten der Bewußtseins- bzw. Vernunftintegration abgeben, so eben, wie wir dies hier in einigen Aspekten versucht haben.
3.2 Vorversicherung II: Bei einer kommunikativen Vernunft (S.227-237)
3.3 Rückversicherung I: Beim Gemeinschaftlich-Besonderen (S.238-244)
3.4 Rückversicherung II: Beim Kosmisch-Allgemeinen (S.244-249)
4. Zum Ausklang: ... die Zukunft weiblich (S.249-255)
Literatur (S.255-264)

Mensch und Lebensraum: Eine Geschichte der Entfremdung. Ein Essay in evolutionärer Bewusstseinsökologie

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Dieter Steiner (Hrsg.): Mensch und Lebensraum. Fragen zu Identität und Wissen. Westdeutscher Verlag, Opladen1997, S. 41-120.
1. Einleitung (S. 40-43)
2. Unten und Oben, Innen und Aussen: Die bewusstseinsökologische Grundsituation (S.43-54)
2.1 Das Kreuz: Die vier Pole der Orientierung (S.43-46)
2.2 Natur und Geist: Partner oder Widersacher? (S.46-49)
2.3 Eine mittlere Ebene als Vermittlungsstelle: Das praktische Bewusstsein (S.49-54)
3. Welt, Mitwelt, Umwelt: Die drei Bewusstseinsebenen und ihre Beziehungsfähigkeit (S.54-67)
3.1 Die Welt und Ich (S.56-60)
3.2 Ich und Du, Du und Ich (S.60-63)
3.3 Ich und die Welt, Ich und Es (S.63-67)
4. Fische, Paviane, Menschen: Evolutionäre Hintergründe (S.68-86)
4.1 Identität und Wissen als zwei divergierende Entwicklungstendenzen (S.68-73)
4.2 Holistisch-kontemplative Lebensweise (S.73-76)
4.3 Sozial-kommunikative Lebensweise (S.77-80)
4.4 Subjektiv-kognitive Lebensweise (S.80-86)
4.4.1 Die archaische Stufe138
Vgl. Günter Dux 1990, 93.
(S.83)
4.4.2 Die magische Stufe139
"Nach Durchmessung der eigenen Seele ... findet der mythische Mensch den andern Menschen ... Auf dem Umweg über das Erwachen zu sich selber erwacht das Du ...," sagt Gebser (1949, 114).
(S.83-84)
4.4.3 Die mythische Stufe140
Vgl. Gebser 1949, 123 ff.
(S.84)
4.4.4 Die mentale Stufe143
Ich verwende hier den Begriff der "Umwelt" in Gegenüberstellung zu dem der "Welt" im gleichen Sinne, wie dies Picht tut (siehe unten). Nach der in dieser Arbeit angestrebften Terminologie müssten wir genauer davon reden, dass es um eine Vergewaltigung der Mitwelt geht und dass diese erst durch diese Vergewaltigung zur blossen Umwelt wird.
(S.85-86)
5. Vergewaltigung, Verdrängung, Veränstigung: Zu den heutigen Problemen (S.87-98)
5.1 Diskursives Bewusstsein: Die Welt vergewaltigt die Umwelt146
In Steiner 1996a habe ich zu diesem Phänomen ausführliche Stellung bezogen. Ich stelle dabei dem Trend zur Globalisierung die Notwendigkeit einer Regionalisierung entgegen. Im gleichen Band widerspricht Rolf Weder (1996a) als Vertreter der Mainstream-Ökonomie dieser Ansicht. Es sei im Gegenteil die globale Marktwirtschaft, die dank internationaler Arbeitsteilung und der Ausnutzung komparativer Vorteile einen effizienten Ressourcengebrauch und damit eine Lösung der ökologischen Probleme ermögliche. Zusätzlich zur Darstellung der eigenen Position liefern die beiden Autoren auch eine kurze gegenseitige Kritik derselben (Steiner 1996b und Weder 1996b).
(S.87-90)
5.2 Praktisches Bewusstsein (S.90-94)
5.3 Das Unbewusste: Angst vor ihm und Angst mit ihm (S.94-98)
6. Leere und Fülle (S.98-113)
6.1 Ökologisch relevante Charakteristikia der buddhistischen Bewusstseinslehre (S.99-106)
6.2 Überbrückende Hinweise auf einige westliche Ansätze (S.106-113)
6.2.1 Zu Haben und Sein, zu Machen und Wirken, zum kleinen und zum grossen Selbst (S.107-111)
6.2.2 Zu Kind und Kunst (S.111-113)
Literatur (S. 113-120)