Druckversion  ·  Kontakt

Konzept

Ein konzeptioneller Rahmen für eine Allgemeine Humanökologie

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Ulrich Eisel und Hans-Dietrich Schulz (Hrsg.): Geographisches Denken (Urbs et Regio 65, Kasseler Schriften zur Geographie und Planung). Gesamthochschule Kassel, Kassel 1997, S. 419-465.
1. Einleitung (S.419-421)
2. Der transdisziplinäre Aspekt (S.421-429)
3. Der transwissenschaftliche Aspekt (S.429-437)
Zu sagen, Wissenschaft allein genüge nicht zur Überwindung der ökologischen Krise, ist heute keine gewagte Behauptung mehr. Diese Krise ist nicht so sehr Ausdruck eines fehlenden Fachwissens als vielmehr einer fehlenden Orientierung. Gerade weil die moderne Wissenschaft für sich selbst Wertfreiheit beansprucht, muß sie sich auf richtungsweisende umfassendere Prinzipien abstützen können. In diesem Sinne schlägt der “humanökologische Kreis” in Figur 2 einen Brückenschlag vor zwischen der Wissenschaft und dem philosophischen Diskurs einerseits und zwischen der Wissenschaft und dem Bereich der lebensweltlichen Praxis andererseits. Des weiteren sollen die drei Bereiche in einer pseudo-hierarchischen Weise zirkulär miteinander verbunden werden. Sie stehen für drei unterschiedliche Einstellungen, die der Mensch gegenüber der Welt haben kann:
1.
Die wissenschaftliche Einstellung: Sie bezieht sich auf das rationale Bemühen, explizites Tatsachen-Wissen über die Welt im Hinblick auf dessen praktische Anwendbarkeit zu akkumulieren. Dieses Unternehmen besteht im systematischen Sammeln von empirischen Beobachtungen - wenn immer möglich mittels Experimenten - und im Herausdestillieren von abstrakten Verallgemeinerungen aus diesen Beobachtungen. Um Wissen auf diese Weise überhaupt sammeln zu können, muß aber die Welt in voneinander getrennte Phänomene unterteilt werden. Das Ziel besteht darin, hinter den Oberflächen-Erscheinungen wirksame Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, der Natur also ihre Geheimnisse zu entlocken, so daß sie sodann zum Wohle der Menschheit instrumentell manipuliert werden kann.1
Die Entstehung der Formulierung eines derartigen Ziels der neuzeitlichen Wissenschaft kann zu Francis Bacon (1561-1626) zurück verfolgt werden. Dazu Max Oelschlaeger: “Bacon’s ideal was no less than a complete mastery of nature. He achieved a radically modern viewpoint, surrendering the classical and medieval notion that humankind was acting out a role upon an externally fixed cosmic stage and asserting that everything in the world could be fashioned to human purpose through science” (1991: 81).
2.
Die philosophische Einstellung: Hier werden, sofern jedenfalls eine umfassende oder “erste Philosophie” gemeint ist, über das Ganze der Welt, über die Existenz des Menschen, über seine Stellung in dieser Welt und über das, was an dieser Welt wertvoll ist, grundlegende Fragen gestellt und Überlegungen angestellt. Weil es dabei um Dinge geht, zu denen die Wissenschaft nichts zu sagen hat, ist die Philosophie als ein rational-spekulatives Unternehmen zu betrachten, das seine Motivation aus der Neugier bezieht und nicht aus dem Bestreben, die Natur unter Kontrolle zu bringen. Auf diese Weise erworbenes explizites Wissen kann für menschliches Leben auf diesem Planeten eine versichernde Orientierung bereitstellen.2
Karl Jaspers drückt dies so aus: “Während wissenschaftliche Erkenntnisse auf je einzelne Gegenstände gehen, von denen zu wissen keineswegs für jedermann notwendig ist, handelt es sich in der Philosophie um das Ganze des Seins, das den Menschen als Menschen angeht, um Wahrheit, die, wo sie aufleuchtet, tiefer ergreift als jede wissenschaftliche Erkenntnis” (1975: 33-34).
3.
Die lebensweltliche Einstellung: Hier sind die Menschen in ihrer grundlegenden existentiellen Beziehung zur Welt engagiert; dieses Engagement erfolgt in der “natürlichen” Einstellung des Alltagslebens. Diese läßt sich von einer Art von Rationalität leiten, die auf direkter Lebenserfahrung im Umgang mit sowohl der sozialen wie auch der natürlichen Welt beruht. Diese Art von Rationalität mag dabei Komponenten einschließen, die bei einer engen Verwendung des Begriffs wohl als "irrational" bezeichnet würden. Solche Komponenten können sich z.B. auf Gefühle religiöser Art beziehen, womit eine gelebte Religiosität gemeint ist, eine, die primär nichts mit Theologie oder Kirchen zu tun hat. Lebensweltliche Erfahrungen führen zur Akkumulation von Wissen einer impliziten Art, das die Praxis jederzeit anleiten kann, aber sich nicht unbedingt in Worte umsetzen läßt.
Bis vor kurzem führte der wachsende Fortschritt der Wissenschaft zur Erwartung, sie würde schließlich auf alle wichtigen Fragen eine Antwort finden können. Entsprechend bestand die komplementäre Vorstellung, Philosophie als ein der Interpretation des noch unerklärten Restes gewidmetes Unternehmen würde irgendwann in der Zukunft ganz verschwinden. Heute sehen wir aber ein, daß Wissenschaft für immer ein unerledigtes Geschäft bleiben muß. Ebenso realisieren wir, daß uns mit einem zu starken bis ausschließlichen Verlaß auf der Wissenschaft Wegweiser einer grundlegenderen Art aus dem Blickfeld entschwunden sind. Dementsprechend sind wir zum einen auf der Suche nach einer neuen Orientierung - im speziellen auch nach Richtlinien hinsichtlich der Rolle der Wissenschaft in unserer Kultur -, die wir aus philosophischer Reflexion zu gewinnen hoffen. Zum andern aber fragen wir uns, wie wir zu einem neuen Vertrauen in unsere Lebenserfahrungen zurückkehren können, zu Erfahrungen, die nicht ständig durch wissenschaftliche Vorgaben schon vorstrukturiert sind.3
Dazu gibt es einen passenden radikalen Ausspruch von Justus von Liebig (1803-1873): “Steht die Wissenschaft mit dem Leben im Widerspruch, hat stets das Leben recht” (zitiert nach Ernst Kilgus 1995).
Figur 2: Der “humanökologische Kreis”. Er illustriert die Notwendigkeit einer Verknüpfung von Wissenschaft, Philosophie und Lebenswelt (oben), eine Verknüpfung, die auch als Verbindung von verschiedenen Arten des Wissens und von Fakten und Werten interpretiert werden kann (unten).
Figur 2: Der “humanökologische Kreis”. Er illustriert die Notwendigkeit einer Verknüpfung von Wissenschaft, Philosophie und Lebenswelt (oben), eine Verknüpfung, die auch als Verbindung von verschiedenen Arten des Wissens und von Fakten und Werten interpretiert werden kann (unten).
Was die Philosophie betrifft, haben wir allerdings ein Problem, denn in moderner Prägung hat sie sich, dem Vorbild der Wissenschaft folgend, von metaphysischen Spekulationen im allgemeinen losgesagt und damit auch die Idee aufgegeben, es könnte ein Sinn in der Welt entdeckbar sein. Die Konsequenz ist, daß wir Menschen uns selbst überlassen bleiben: Sinn und damit Orientierung können wir, so wird behauptet, nur innerhalb der Menschheit selbst finden. Die historische Entwicklung der Philosophie, die zu diesem heutigen Stand geführt hat, wird von Herbert Schnädelbach als eine Entwicklung über drei verschiedene Paradigmen skizziert (1989: 46-76):
1.
Das ontologische Paradigma oder Paradigma der Objektivität: Es behauptet, die Basis der Realität sei außerhalb von uns zu finden, womit es eine Philosophie des Seins, der Natur und des Wesens der Dinge begründet, die Art von Philosophie, die während der Antike und des Mittelalters vorherrschte. Zu dieser Zeit war die Wissenschaft noch nicht getrennt von der Philosophie und Fakten und Werte gehörten noch zusammen. Es bestand die Vor¬stellung, die Menschen könnten in kontemplativer Meditation ewige Wahrheiten entdecken und aus den so erhaltenen Einsichten Handlungsorientierungen ableiten (Beispiel: Platon).
2.
Das mentalistische Paradigma oder Paradigma der Subjektivität: Dieses bezieht sich auf eine Art von Idealismus, “für den das Subjekt die substantielle Grundlage aller Wirklichkeit überhaupt ist”, woraus sich ein Vorrang des Subjektes vor dem Gegenstand ergibt (Gerhard Huber 1975: 12). Dieses Paradigma bildet den Kern der Philosophie der Aufklärung, die damit folgerichtig eine Philosophie der Erkenntnis und des Bewußtseins ist. Erkenntnis ist möglich, nicht weil eine äußere Welt sich einem offenen Geist aufprägt, sondern weil eine vorbestehende Struktur dieses Geistes sich eine Vorstellung der äußeren Welt schafft. Ebenso muß und kann die Antwort auf die Frage, was moralisch richtig oder falsch ist, innerhalb der menschlichen Vernunft gefunden werden (Beispiel: Kant).
3.
Das linguistische Paradigma oder Paradigma der Intersubjektivität: Dieses bildet die Grundlage der vorherrschenden Philosophie der Moderne. Es besteht darauf, daß die Welt nicht so sehr aus unserem Geist heraus konstruiert sei, sondern vielmehr unserer Fähigkeit entspringe, miteinander diskursiv in Form von Sprache zu kommunizieren, womit wir in intersubjektiven Prozessen recht eigentlich die Welt konstruierten (siehe z.B. Peter L. Berger und Thomas Luckmann 1989). Entsprechend gibt es eine Konsenstheorie der Wahrheit, und die Wahrheit ist Veränderungen unterworfen.4
Eine Konsenstheorie der Wahrheit wird z.B. von Jürgen Habermas vertreten. Das bedeutet, wie Walter Reese-Schäfer ausführt, nicht, dass Wahrheit ein relativistisches Konzept ist (1991: 19). Indem im Sinne von Charles Sanders Peirce (1839-1914) die Möglichkeit einer unbegrenzten Gemeinschaft (“indefinite community”) ins Auge gefaßt wird, bekommt Wahrheit den Charakter einer regulativen Idee, die sich auf die real nie existierende letzte Meinung (“ultimate opinion”) dieser Gemeinschaft bezieht.
Moderne Philosophie ist so Sprachphilosophie, wovon die spezielle Richtung der analytischen Philosophie sich mehr und mehr am Vorbild der Wissenschaft ausgerichtet hat, dieselbe Wissenschaft, deren Bedeutung eigentlich von der Philosophie in Frage gestellt werden müßte.5
Oswald Schwemmer zum Beispiel weist auf den Umstand hin, dass die philosophische Begründung sich nach dem Muster der wissenschaftlichen Argumentation auszurichten versucht. Er sieht dies insbesondere für das Anliegen eines universalisierbaren ethischen Diskurses als ein Problem, bei dem eben die gleiche Art von Vernunft, die vorher schon bei der Wissenschaft triumphiert hat, zum Zuge kommen soll (1992: 5).
Diese Skizze der Entwicklung der Philosophie zeigt, daß ihr gegenwärtiger Stand für das Projekt einer Allgemeinen Humanökologie zu kurz greift. Es braucht einen erneuten Paradigmenwechsel. Was wir zufolge Gerhard Huber benötigen, ist eine Rückkehr zu einer ausgeweiteten Vorstellung von Vernunft, eine die fähig ist, sich derart zu öffnen, daß ihr “in der lebendig erfahrenen Natur, im künstlerischen Gebilde, in der mitmenschlichen Beziehung ... Wesenhaftes als ein Sinnbestand in sich selbst” begegnen kann (1981: 139). Und er sagt, es sei wohl deutlich, “daß diesem Vernunftverständnis so etwas wie eine religiöse Bedeutung eigen ist, gesetzt «religiös» heiße die Bindung an ein Überlegenes oder der Bezug zu einem solchen, wovon der darum Wissende abhängig ist und dem er zu entsprechen versucht” (1981: 140). Wir können etwa Henryk Skolimowskis Ökophilosophie als einen Versuch sehen, einer solchen umfassenderen Vernunft Raum zu geben. Skolimowski schlägt einen Wechsel von einer Sprachphilosophie zu einer Philosophie des Lebens - in einem weiteren Sinne zu einer Philosophie der Evolution - vor, die den Menschen nicht länger als den beherrschenden, sondern lediglich als einen mitwirkenden Teil sieht (1988: 37 ff.). In ähnlicher Weise plädiert Arne Naess für eine relationale Öffnung der Menschen gegenüber der Welt, womit sie ihre spontane Empfindungsfähigkeit und auch ihre Fähigkeit zur Gestalterfahrung, einer Art der Erfahrung, in der sich das Rationale und das Irrationale verbinden, fördern können.6
“... is not the value-laden, spontaneous and emotional realm of experience as genuine a source of knowledge or reality as mathematical physics?” fragt Arne Naess (1989: 32).
Sowohl Skolimowksi wie auch Naess betonen die Bedeutung einer Art von Weisheit, die Tatsachen und Werte in Beziehung zueinander zu setzen vermag. Von einer sol¬chen Position aus können wir uns eine derartige Rückkopplung zur Wissenschaft vorstellen, daß eine "neue Wissenschaft" entsteht, eine, die nicht länger das Leben kontrolliert, sondern in seinem Dienste steht.
Eine Philosophie des Lebens sollte, so dürfen wir erwarten, eine gute Verbindung zur Ebene der Lebenswelt liefern.7
Natürlich kann auch die dem sprachphilosophischen Paradigma angehörende Habermas’sche Idee der kommunikativen Rationalität mit der Lebenswelt in Verbindung gebracht werden: “Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt” (Habermas 1988: 107). Allerdings haben wir es dabei mit einer “verarmten” Lebenswelt zu tun: Die Verständigung zwischen Menschen beschränkt sich auf das Mittel der sprachlichen Argumentation (vgl. dazu die kritischen Anmerkungen in Steiner 1994: 227-237) und mit der Natur gibt es nur die Möglichkeit eines instrumentellen Umgangs, ein Umstand, der z.B. von Robyn Eckersley (1994) kritisiert wird.
Tatsächlich ist ja auch in evolutionärer Sicht die Philosophie ein älteres Phänomen als das der Wissenschaft: Sie hat sich erst in der Antike aus der Religion herausgelöst, und die Religion können wir als unausweichlichen und grundlegenden Bestandteil der Lebenswelt betrachten. In dem Masse, wie die Philosophie immer noch mit denselben Fragestellungen wie die Religion beschäftigt ist, erhält sie eine Verwandtschaft zu dieser aufrecht, wobei der Unterschied darin besteht, daß dort, wo die Religion Antworten gibt, die Philosophie zuerst Fragen stellt. Mit Verweis auf Platon sieht denn auch Karl Jaspers die Wurzeln der Philosophie in der Verwunderung, die Menschen darüber empfinden, daß sie sich in dieser Welt vorfinden, in der Beschäftigung mit den existentiellen Fragen von Leben und Tod. So verstandene Philosophie ist eine Angelegenheit des Volkes und jeder Mensch ist sein eigener Philosoph.8
Dazu Jaspers: “Während man anerkennt, dass in den Wissenschaften Lernen, Schulung, Methode Bedingung des Verständnisses sei, erhebt man in bezug auf die Philosophie den Anspruch, ohne weiteres dabeizusein und mitreden zu können. Das eigene Menschsein, das eigene Schicksal und die eigene Erfahrung gelten als genügende Voraussetzung” (1975: 34).
Andererseits gibt es natürlich die elitäre Gemeinschaft der professionellen Philosophen. Damit ihre Gedanken bei gewöhnlichen Leuten überhaupt eine Resonanz finden können, sollten sie nicht von einer Art sein, die sich in unzugänglichen abstrakten Räumen verliert. Jaspers spricht auch diesen Punkt an: “Die Forderung der Zugänglichkeit der Philosophie für jedermann muß anerkannt werden. Die umständlichsten Wege der Philosophie, den die Fachleute der Philosophie gehen, haben doch ihren Sinn nur, wenn sie münden in das Menschsein, das dadurch bestimmt ist, wie es des Seins und seiner selbst darin gewiß wird” (1975: 34).
Die Wissenschaft befindet sich im Verhältnis zur Lebenswelt auf einer Metaebene, indem sie ja versucht, hinter den Ereignissen des Alltags Verallgemeinerungen zu finden, die sich als versteckt operierende Strukturen fassen lassen. In dem Masse, wie Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung aber in technischer Form wieder auf die Lebenswelt zurück wirken, wird diese zunehmend durch die Wissenschaft als System "kolonisiert".9
Die “Kolonisierung der Lebenswelt” durch das System ist ein Thema in Habermas' kritischer Theorie. Es ist damit gemeint, dass ein Teil der Lebenswelt durch eine Systemrationalität, d.h. von Regeln eines kollektiv unterstützten Systems verwaltet wird, wobei aber dieses System in starkem Masse eine Eigendynamik angenommen hat, die sich der Kontrolle der teilnehmenden Menschen weitgehend entzieht. Vgl. dazu Reese-Schäfer 1991: 40-44. Dass diese Entwicklung zu einem Verlust der "natürlichen Einstellung" und zu einem Sinnverlust führt, darauf hat Edmund Husserl (1935) schon viel früher aufmerksam gemacht.
Der auf kommunikative Verständigung angelegte Alltagsverstand muß dem Expertenwissen Platz machen und direktes Verhandeln wird durch anonyme Interaktionen abgelöst. Umso wichtiger ist es, daß die Wissenschaft die andauernde Existenz einer alternativen Art des Wissens jenseits der Expertise anerkennt, einer Art des Wissens, die in traditionellen Komponenten der Lebenswelt überlebt hat. Dieses Wissen äußert sich in impliziter Form und wird als Erfahrungswissen oder Vertrautheitswissen bezeichnet. Es entsteht nicht durch intellektuelle Übungen, sondern wird über Tun angeeignet und über die Dauer eines Lebens bzw. über Folgen von Generationen hinweg akkumuliert.10
Z.B. zeigt Ingela Josefson (1993) die Bedeutung des Erfahrungswissens gegenüber dem Expertenwissen im Kontext der Krankenpflege. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit verschiedenen Arten des Wissens siehe Steiner 1991.
Dabei handelt es sich nicht nur um kognitives Wissen, das in Auseinandersetzung mit der biophysischen Umwelt entstanden ist, sondern auch Wissen, das aus impliziten Werthaltungen besteht.
Je mehr sich die Wissenschaft als unfähig erweist, die Umweltprobleme zu lösen, desto wichtiger kann diese implizite Art des Wissens werden. Für Paul Messerli, der sich eingehend mit der Humanökologie von Bergregionen in der Schweiz befaßt hat, ist es “undenkbar, daß die Wissenschaft je ersetzen kann, was Bergbauerngenerationen über manches Jahrhundert konkreter Naturbearbeitung an lokalem Wissen und Erfahrung akkumuliert haben und das wie ein Vermächtnis in der traditionellen Kulturlandschaft gespeichert ist” (1989: 12). Wenn die Tradition verschwindet, dann verschwindet auch das damit assoziierte Wisen. Natürlich stellt sich hinsichtlich der Nützlichkeit von implizitem Wissen auch die Frage, wie weit es in einer Zeit der rasanten Umweltveränderung überhaupt noch Gültigkeit hat, oder umgekehrt, wie weit es in Zukunft möglich sein wird, sich neues Wissen dieser Art anzueignen.
In dieser Situation ist es immerhin bedenkenswert, daß es wissenschaftliche Disziplinen gibt, die eher als andere in der Lage sein sollten, zum Brückenschlag zwischen Fach- und Alltagswissen beizutragen. “Es handelt sich um Disziplinen, deren Gegenstandsbeschreibungen wenigstens partiell noch in alltagsweltlich-alltagssprachliche Gegenstandsbeschreibungen übersetzt werden können, wo also die in vielen Naturwissenschaften unüberbrückbar gewordene Kluft zwischen emischer und etischer Beschreibung11
Die Unterscheidung zwischen “emischer” und “etischer” Beschreibung geht auf Kenneth Pike 1967 zurück und hat seither vor allem in der Kulturanthropologie Eingang gefunden (vgl. dazu Marvin Harris 1980: 32 ff.). Hard selbst erläutert sie so: “«Emische» Natur(beschreibung) ... wird im allgemeinen als eine Natur(beschreibung) verstanden, in der die Gegenstände so erscheinen, wie sie im alltäglichen Lebensvollzug als sinnvolle Einheiten erlebt werden - und nicht (wie in «etischer» Beschreibung) z.B. als physiko-chemische Zustände und Ereignisse” (1994: 166). Eine Voraussetzung muß allerdings erfüllt sein, damit die genannte Überbrückung möglich wird: Auch das Alltagswissen muß sprachlich formulierbar sein, und dies ist, in dem Masse eben, wie es von impliziter Art ist, nicht ohne weiteres gegeben.
am gleichen Problem noch verstehend-interpretierend überbrückt werden kann ...”, sagt Hard, und er zählt das “physical planning”, die Medizin, Teile der Ökologie, auch Vegetationskunde und Vegetationsgeographie und nicht zuletzt die klassische Geographie dazu (1994: 76).
4. Der evolutionäre Aspekt (S.437-445)
5. Der transpersonale Aspekt (S.445-451)
6. Humanökologie und Geographie (S.451-460)
7 Literatur (S.461-465)
Bemerkung zu den Begriffen "transdisziplinär" und "transwissenschaftlich"