www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

2.2 Politische Aspekte von archaischen lokalen Gruppen

Es handelt sich hier um die uns hinsichtlich ihrer sozialen (i.e.S.) Merkmale schon aus den Abschnitten 4.1 bis 4.3 in "Soziales i.e.S." bekannten archaischen Gesellschaften, die subsistenzmässig als nomadische Wildbeuter, d.h. von Sammeln und Jagen leben. Hinsichtlich ihrer Organisation lassen sich im Minimum zwei Niveaus unterscheiden, ein unteres der einzelnen Familien oder Haushalte und ein oberes der aus verschiedenen Familien bzw. Haushalten bestehenden Horde, die die eigentlich autonome und die grundlegend politische Einheit darstellt.22 Es kommt allerdings auch vor, dass sich zu einer bestimmten Jahreszeit temporär mehrere Horden an einem Standort zusammenfinden, sei es aus Gründen der Nahrungsmittelversorgung, sei es aus rituellen Anlässen.
Wir wir in 4.3 von "Soziales i.e.S." gesehen haben, baut die soziale Organisation von archaischen Gesellschaften auf Verwandtschaftsbeziehungen auf. Dabei wird Verwandtschaft aber relativ locker und flexibel interpretiert, dies im Gegensatz zu den Stammesgesellschaften, in denen dann Abstammungsbeziehungen eine viel systematischere, auch ideologisch untermauerte Bedeutung bekommen. Dieser Unterschied wird von Fried so beschrieben:
The basic formula for the band egalitarian society ... is "we are probably close relatives because we live together." In rank society the formula is, "because we are close relatives, we probably live together."23
Die Betonung liegt also bei der archaischen Horde auf dem lokalen Zusammenleben.
Wenn die archaischen Gesellschaften als egalitär bezeichnet werden, heisst das nicht, dass alle unterschiedslos gleich sind. Es gibt immer einzelne Personen, die über besondere Fähigkeiten oder auch spezielle Überzeugungskraft verfügen. Damit können sie Ansehen und Einfluss gewinnen und in bestimmten Situationen eine führende Rolle übernehmen.24 Entscheidend ist dabei nach Fried, dass es keine Mittel gibt, um die Zahl der Personen, die fähig sind, Macht auszuüben, zu limitieren:
An egalitarian society is one in which there are as many positions of prestige in any given age-sex grade as there are persons capable of filling them.25
Helbling kritisiert bei dieser Charakterisierung die Einschränkung auf die "age-sex grades", d.h. auf eine je interne Betrachtung von bezüglich Alter und Geschlecht homogenen Gruppen, da damit die Frage der Symmetrie oder Asymmetrie von Machtbeziehungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern nicht aufs Tapet kommt.26 Helbling selbst beantwortet diese Frage im Sinne der Symmetrie. Darüber hinaus ist wichtig, dass diese Symmetrie längerfristig gesehen immer für alle gilt. Machtunterschiede aufgrund von Einflussmöglichkeiten sind meist vorübergehend. Zudem verschieben sie sich, so dass insgesamt nirgends ein dauerndes Machtgefälle entsteht, eine Situation, die weiter noch dadurch gefördert wird, dass mittels gewisser sozialer Mechanismen Fähigkeitsunterschiede auch aktiv immer wieder verwischt werden.27 Wenn Entscheidungen getroffen werden sollen, wird auch, im Gegensatz zu der uns bekannten Mehrheitsregel, ein einhelliges, konsensuales Urteil angestrebt.28
Archaische Gesellschaften sind als relativ friedfertig bekannt, sowohl was horden-interne als auch Beziehungen zwischen Horden betrifft. Das heisst nicht, dass Konflikte völlig unbekannt wären, aber es gibt erstens wenig Anlass oder Anreize, gegebene Normen zu verletzen, und überhaupt von der gesellschaftlichen Struktur her gesehen kaum alternative Handlungsmöglichkeiten.29 Ein in anderen Gesellschaftstypen wichtige Konfliktquelle, die Existenz von Privateigentum, fällt hier weg, da solches nicht existiert. Dinge wie Land, Nahrung, Wasser, Werkzeuge, Waffen, Schmuckstücke etc. sind allen zugänglich.30 Nahrungsmittel werden auch nicht gehortet; ein Jäger, der mit Beute heimkommt, wird das Fleisch verteilen. "Der gute und erfolgreiche Jäger geniesst ein hohes Ansehen, wenn er ein grosser Fleischverteiler ist ..."31 Überhaupt herrscht, was Konsumgüter, insbesondere Nahrungsmittel betrifft, ein allseitiges, auf Reziprozität beruhendes Austauschsystem, das wir im Zusammenhang mit den ökonomischen Aspekten der verschiedenen Gesellschaftstypen noch betrachten werden. Gerade im Rahmen dieses Systems kann es aber trotzdem zu Streitigkeiten kommen, dann nämlich, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden. Bei fehlendem Eigentum kann ein Konzept von Diebstahl in unserem Sinne nicht entstehen, aber es kann damit die Vorstellung verbunden sein, dass eine Person einem nicht das gibt, was einem zusteht. In dieser Situation gibt es eigentlich nur einen möglichen, wichtigen Auslöser für Konflikte: Sexuelle Seitensprünge.32 Nun herrscht in archaischen Gesellschaften hinsichtlich sexueller Dinge zwar eine beträchtliche Toleranz, so dass in vielen Fällen vielleicht nicht eigentliche Eifersucht eine Rolle spielt. Aber es ist daran zu denken, dass ein grundlegender Aspekt einer Paarbindung immer auch eine Übereinkunft ökonomischer Art ist, und in diesem Sinne kann die Einmischung Dritter als Gefahr empfunden werden.33
Wie werden Konflikte nun gelöst? Fried zählt vier Steigerungsgrade auf:34
1.
Das Vergehen wird toleriert und es passiert gar nichts. Dies ist ein häufiger Fall;
2.
Ebenfalls häufig ist, dass mit individueller Vergeltung geantwortet wird: Wie du mir, so ich dir;
3.
Es kommt zu einer breiteren sozialen Aktion, mit der die schuldige Person blossgestellt, lächerlich gemacht und erniedrigt wird. Z.B. ist es in einer Gesellschaft, in der Grosszügigkeit die einzige Möglichkeit ist, Prestige zu erlangen, nicht angenehm, als geizig identifiziert zu werden;35
4.
Seltener sind Racheakte grösseren Ausmasses, die bis zu Gewaltanwendung gehen können.
5.
Ein zwar drastisches, aber friedliches Mittel der Konfliktlösung ist im übrigen die Trennung: Eine der beiden Streitparteien verlässt die Horde und schliesst sich einer anderen an.36
Was nun die Frage externer Konflikte betrifft, erinnern wir uns daran, dass nach der in 4.1 von "Soziales i.e.S." genannten Hordentheorie, die ja eine patrilokale/patrilineare Organisation der archaischen Gesellschaften behauptet, kriegerische Auseinandersetzungen ein fast alltägliches Ereignis sein sollen. Inzwischen ist klar, dass dem nicht so ist, auch wenn das Thema bis heute kontrovers diskutiert wird.37 Auf alle Fälle aber ist sogar in Gesellschaften, denen eine gewisse kriegerische Ader zugeschrieben werden kann,38 der gesamte Zeitaufwand für Feindseligkeiten gering. Es gibt keine speziellen Vorbereitungen und es kommt keine spezielle Technologie zum Einsatz: Es werden gewöhnliche Werkzeuge und Jagdgeräte als Waffen verwendet. Auch die Intensität von kriegerischen Handlungen, wenn es denn dazu kommt, bleibt gering. Die Energie wird immer noch lieber für Drohungen als für tatsächliche Gewaltanwendungen aufgewendet.39 Dazu Helbling:
Was den Charakter des "Krieges" bei Wildbeutern betrifft, hat er eher den Charakter einer organisierten und ritualisierten Schlägerei, bei der das gegenseitige Beschimpfen, Beleidigen und Drohen den grössten Teil ausmacht. Tote gibt es dabei höchst selten, da dies wiederum Grund für Rache und Vergeltung wäre. Wenn es Verletzungen gibt, werden die Tätlichkeiten abgebrochen.40
Im übrigen gilt auch hier das der Trennung bei internen Streitigkeiten analoge Prinzip als typisch: Ein Konflikt zwischen lokalen Gruppen wird beendet, indem sie einander ausweichen und sich gegenseitig meiden.41 Einen sicher konfliktvermeidenden Charakter hat auch die Tatsache, dass archaische Horden nicht ausgesprochen territorial orientiert sind. Erstens gibt es keine scharfen Grenzen und benachbarte Territorien können sich überlappen. Und zweitens behandeln die "Eigentümer" die Frage des Zugangs in meist nicht sehr restriktiver Weise. In Notzeiten dürfen Externe ein Territorium sogar uneingeladen betreten, nur müssen sie beachten, dass dann auch hier in einer längerfristigen Perspektive das Prinzip der Gegenseitigkeit gilt.42

Anmerkungen

22
Vgl. Fried 1967, 66.
23
Fried 1967, 124.
24
Vgl. Helbling 1987, 116.
25
Fried 1967, 33.
26
Vgl. Helbling 1987, 39.
27
Siehe Fried 1967, 33-34 und 82-83. Siehe dazu als Illustration in 3.1 die Schilderung, wie die !Kung-Männer dadurch, dass sie über Jagderfolge spotten, das Aufkommen von Selbstgefälligkeit und Arroganz verhindern.
28
Nach Helbling 1987, 117.
29
Vgl. Fried 1967, 71.
30
Siehe Fried 1967, 74-75.
31
Helbling 1987, 116.
32
Siehe dazu Fried 1967, 75 ff.
33
Siehe Helbling 1987, 116-117, und Fried 1967, 78.
34
Vgl. Fried 1967, 72-73.
35
Siehe dazu aud Helbling 1987, 117.
36
Helbling 1987, 118.
37
Vgl. Fried 1967, 100.
38
Dabei wäre nach Helbling (1987, 119-120) zu beachten, dass oft Gesellschaften, die als kriegerisch veranlagt genannt werden, (wie z.B. die südamerikanischen Yanomanö), gar keine Wildbeuter sind. Entsprechend sind in diesem Zusammenhang genannte Statistiken unzuverlässig.
39
Siehe Fried 1967, 99 ff.
40
Helbling 1987, 121.
41
Vgl. Helbling 1987, 121, und Fried 1967, 103.
42
Siehe Fried 1967, 94 ff.