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Soziales i.e.S.

Soziales

Vorbemerkung
1. Begriffliches
1.1 Was heisst Soziales i.e.S.?
Zunächst zur Bedeutung des Wortes “sozial” im allgemeinen: Es stammt von dem lateinischen socialis ab und meint “die Gesellschaft betreffend”, “gesellschaftlich”, “gesellig”, “ehelich”.1
Wilhelm Bernsdorf 1972, 708.
Das sind verschiedene Bedeutungen und tatsächlich ist der Begriff auch im heutigen Sprachgebrauch immer noch unscharf und vieldeutig. Hier meinen wir damit auf alle Fälle das, was mit dem zweiten der obigen Bedeutungen angesprochen ist. Dazu eine Definitionen aus einem Lexikon der Soziologie:
sozial, so viel wie gesellschaftlich, im Gegensatz zu ‘individuell’. Der Begriff verweist in sehr allgemeiner Weise darauf, dass er etwas mit den Beziehungen zwischen Menschen zu tun hat.2
Werner Fuchs-Heinritz, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt und Hanns Wienold 1995, 611.
Wie es in der Beschreibung selbst heisst, ist dies immer noch sehr allgemein. Etwas aufschlussreicher ist die folgende Charakterisierung:
Sozial, ... Den Bereich der zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen Beziehungen, Verhältnisse, Ordnungen, Institutionen usw., kurz: die Gesellschaft betreffend - Gegensatz ... : das Einzelwesen betreffend, individuell, psychisch.3
Bernsdorf 1972, 708. Dies ist der zweite von vier bei Bernsdorf unterschiedenen Sinngehalten von “sozial”.
Auch diese Beschreibung aus einem englischen Wörterbuch schafft mehr Klarheit:
social. Having to do with interrelationships between individuals or groups. A social factor is said to exist when the behavior of even one individual is affected by another person or group, whether that person (or persons) is physically present or not. The term social is distinguished from cultural in that social pertains to relations between persons, whereas culture pertains to beliefs, standards of behavior, values, knowledge, and all other aspects of culture.4
George A. Theodorson und Achilles G. Theodorson 1979, 383.
Wir treffen hier wieder auf die Unterscheidung von Gesellschafte und Kulture bzw. von Struktur und Superstruktur, wie wir sie in “Kulturelle Evolution”, Abschnitt 1.2 und Abb.1 getroffen haben. Das Soziale (Gesellschaftliche) auf der Ebene der Struktur bezieht sich auf Beziehungen zwischen menschlichen Individuen, das Kulturelle auf der Ebene der Superstruktur auf Beziehungen zwischen Menschen und Ideen. Noch ist aber dabei der Begriff des “Sozialen” für die vorliegenden Zwecke zu weit gefasst. Er bezieht sich zunächst auf alle drei Formen der Organisation des menschlichen Zusammenlebens, die soziale i.e.S., die politische und die ökonomische Organisation (vgl. Abb.1 in 1.2 von “Kulturelle Evolution”). Im vorliegenden Text interessiert uns nur die erste Art. Dabei ist es umstritten, wie das Soziale i.e.S. vom Politischen abzugrenzen ist, wenn es denn überhaupt eine solche Unterscheidung geben kann. Von den archaischen Gesellschaften z.B. wird zum Teil gesagt, diese verfügten über gar keine politische Struktur. Der Zürcher Ethnologe Jürg Helbling meint, eine solche Schlussfolgerung ergäbe sich aus einer ethnozentrischen Sicht, die nach politischen Institutionen und Ämtern suche, so wie wir sie kennen, die es aber tatsächlich in archaischen Gesellschaften nicht gebe. Hingegen existierten Machtbeziehungen zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern, und diese müssten als Teil einer politischen Struktur betrachtet werden.5
Siehe Jürg Helbling 1987, 36.
Helbling ist offenbar der Ansicht, dass “Macht” ein politisches Phänomen ist, wo immer sie auch auftritt. Man kann es so sehen. Trotzdem möchte ich hier von dieser Klassifizierung absehen und Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern eben zum Bereich des Sozialen i.e.S. zählen. Allgemeiner ausgedrückt soll dieses menschliche Beziehungen umfassen, die Einzelpersonen betreffen und nicht direkt mit der Gemeinschaft oder der Gesellschaft als Ganze zu tun haben. Wir könnten auch sagen, es gehe um Beziehungen der “sozialen Nähe”, die sich auf Phänomene wie Sexualität, Liebe, Zuneigung, Fürsorge, Ehe, Familie, Elternschaft, Verwandtschaft und Affinalität (Verschwägerung durch Heiratsbeziehungen) beziehen, alles Erscheinungen, die der biologischen Existenz des Menschen nahe sind. Dazu passt eine vom Zoologen Adolf Remane gegebene Charakterisierung:
Soziales Verhalten kann ein “Miteinander-” und ein “Füreinander-Handeln” sein. Das Miteinander haben wir in beherrschender Form in der “anonymen Schar”6
Mit der “anonymen Schar” sind Sozialverbände wie Fisch- oder Vogelschwärme gemeint.
kennengelernt. Das Füreinander ist charakteristisch für die höheren Sozialgruppen der Tiere. Dieses Füreinander-Handeln kann aber zwei ganz verschiedene Richtungen einschlagen. Es kann ein Handeln für die Erhaltung des Gesamtsystems, für den Verband, den Staat sein, es kann aber auch ein Handeln direkt für den oder die persönlichen Sozialpartner sein, wie es in den Eltern-Kind-Beziehungen so eindrucksvoll zu beobachten ist.7
Adolf Remane 1971, 97.
So gesehen bezieht sich unsere Kategorie des Sozialen i.e.S. auf die zuletzt genannte Art des Handelns. Damit stimmen wir überein mit einer Unterscheidung von sozialen und politischen Merkmalen wie sie Heide Göttner-Abendroth bei der Diskussion matriarchaler Gesellschaften trifft: Unter den sozialen Merkmalen versteht sie die Verwandtschafts-, die Heirats- und Ehebeziehungen, zu den politischen Merkmalen zählt sie dagegen diejenigen Vorgänge, die mit einer die Gemeinschaft als Ganze betreffenden Entscheidungsfindung zu tun haben.8
Vgl. Heide Göttner-Abendroth 1997a, 19. Allerdings hält sie diese Differenzierung nicht konsequent durch: An anderer Stelle (15) redet sie von den drei Ebenen des Ökonomischen, des Sozialen und des Kulturellen (das sie das “Symbolisch-weltanschauliche” nennt) und subsumiert dabei das Politische unter das Soziale.
1.2 Begriffsvokabular der Residenz- und Deszendenzregeln
2. Soziale Systeme bei Tier-Primaten
2.1 Paviane
2.2 Orang-Utans
2.3 Gorillas
2.4 Schimpansen
2.5 Bonobos
3. Überlegungen zur sozialen Evolution der Hominiden
3.1 Von der Jagd- über die Sammel- zur Nahrungsteilungshypothese
3.2 Die Hypothese des “Sex-Vertrags“ von Helen E. Fisher
3.3 Das “Stammbaum-Modell” von Robert Foley
4. Die soziale Organisation archaischer und matrizentrischer Gesellschaften
4.1 Die archaische Gesellschaft: Patrilokale/patrilineare Horden ...
4.2 ... oder egalitäre Gemeinschaften?
4.3 Beispiel einer archaischen Gesellschaft: Die !Kung San (Buschleute)
4.3.1 Leben in lokalen Gruppen
4.3.2 Verwandtschaftssysteme
4.3.3 Heirat und Sexualität
4.4 Merkmale matrizentrischer Gesellschaften
4.4.1 Begriffliches
4.4.2 Geschichtliches
4.4.3 Zur Sozialordnung
4.5 Beispiel einer matrizentrischen Gesellschaft: Die Irokesen
4.5.1 Geschichtliches
4.5.2 Die matrilineare Grossfamilie
4.5.3 Der matrilineare Clan
5. Das Soziale in patriarchalen Gesellschaften
5.1 Der Vorgang der Patriarchalisierung
5.1.1 Hypothesen über die Ursachen
5.1.2 Der Vorgang der Patriarchalisierung in vorderasiatischen Gesellschaften
5.1.3 Beispiel einer neuzeitlichen Übergangsgesellschaft: Die Trobriand-Insulaner
5.2 Patriarchale Strukturen in der Antike: Das Beispiel Rom
5.2.1 Geschichtliches
5.2.2 Die patriarchale Familie
5.2.3 Höhepunkt der Sklaverei
Zitierte Literatur
Zusätzliche Literaturangaben (besonders zu Mittelalter und Neuzeit)