www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Soziales

3. Überlegungen zur sozialen Evolution der Hominiden

Warum überhaupt leben Primaten sozial? Tatsächlich hat ja ein Zusammenleben seine Zweideutigkeiten, es bringt nicht nur Nutzen, sondern verursacht auch Kosten. In einer Gruppe lebende Individuen können einander bei der Suche nach Essbarem unterstützen, aber es gibt auch eine unmittelbarere Konkurrenz um die Nahrung zwischen den Gruppenmitgliedern. Ein Vorteil wiederum ist, dass viele Augenpaare rascher auf bedrohliche Raubtiere aufmerksam werden können und die Gruppe gegen diese besseren Schutz bietet, aber umgekehrt können Raubtiere auch rascher prospektive Beute erkennen, wenn sie massiert auftritt.1 Nun haben wir ja bei der Betrachtung einiger Primatenarten (vgl. Kap.2) festgestellt, dass diese tatsächlich in sozialen Verbänden leben. Damit ist anzunehmen, dass die Vorteile letztlich überwiegen. Es ist aber auch klar geworden, dass von Art zu Art sehr verschiedene soziale Strategien zur Anwendung kommen, was insbesondere jeweils auch auf die Stellung der Geschlechter abfärbt. Wie wir noch sehen werden, vertritt Foley die Meinung, dass dafür primär ökologische Faktoren verantwortlich sind (siehe 3.3). Und wir erinnern uns, dass Kummer entsprechende Überlegungen für die soziale Evolution der Paviane angestellt hat (vgl. 2.1.). Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass die Umweltbedingungen auch für die Möglichkeiten des Soziallebens von frühen Hominiden einen entscheidenden Faktor darstellten. Der Prozess der Menschwerdung resultiert nun aber in einer speziellen Art des sozialen Zusammenlebens, das in seiner Intensität all das, was uns von den nicht-menschlichen Primaten bekannt ist, bei weitem übersteigt. Wie in 3.2 in “Menschwerdung” ausgeführt wurde, können wir diese Entwicklung mit der für den Menschen typischen verfrühten Geburt und der verlängerten Kindheit in Zusammenhang bringen. Hier liegt der Ansatz für die Entstehung sozialer Strukturen mit einem Eigenleben, das sich von den ökologischen Grundlagen abzulösen beginnt. Denken wir aber daran, dass die Wurzel für diese Entwicklung schon bei den Tierprimaten festgemacht werden kann. In 7.1 von "Bewusstsein” haben wir diesbezüglich Kummer zitiert mit seiner Feststellung, dass Frauen und Männer von Natur aus ein sich stark überlappendes potentielles Verhaltensrepertoire mitbringen, das dann aber durch die massgebliche soziale Konstellation eine Polarisierung erfährt. Diese Konstellation mag zwar ökologisch induziert sein, wirkt sich aber ihrerseits so aus, dass das von Natur aus mögliche Verhalten stark in bestimmte Bahnen gelenkt wird.
Im folgenden betrachten wir einige Ansätze, die nach Erklärungen für die Evolution der hominiden Sozialität suchen. Im ersten Fall geht es um eine kontroverse Diskussion bezüglich der Bedeutung der Art des Nahrungserwerbs bzw. der Nahrungsteilung für die Bildung von sozialen Gruppen überhaupt. Im zweiten und dritten Fall diskutieren wir Hypothesen speziellerer Art, die den Charakter des sozialen Zusammenlebens aus bestimmenden Faktoren erklären möchten: Zuerst befassen wir uns mit dem Ansatz der amerikanischen Anthropologin Helen E. Fisher, die die Bedeutung der Sexualität ins Zentrum rückt und daraus die Hypothese des von ihr so genannten “Sex-Vertrags” ableitet. Danach werfen wir einen Blick auf einen Erklärungsversuch - ich nenne ihn das “Stammbaum-Modell” - des englischen Anthropologen Robert Foley, der aus einem Vergleich mit den heute lebenden Tierprimaten, mit ihren sozialen Lebensformen und ihrer verwandtschaftlichen Nähe zum Menschen eine Rekonstruierbarkeit der hominiden Sozialevolution postuliert.

Anmerkungen

1
Vgl. Foley 1997, 175.