www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

1.5.1 Nicht-hierarchisches Weltbild

Wenn für die tierischen Lebensformen gilt, dass Innen und Aussen noch völlig zusammenfallen bzw. "die Aussenwelt ... in den für die jeweilige Art relevanten Merkmalen in den Organismus hineingenommen" ist,30 so trifft dies trotz eines ersten Bewusstwerdens einer Trennung von Innen und Aussen auch für die erste in Tabelle 2 aufgeführte Stufe, die Zeit des nicht-hierarchischen Weltbildes, noch in stärkerem Masse zu. Gehlen z.B. beschreibt dies so:
Diese Realitäten [gemeint sind: "der 'übergreifende Zusammenhang' zwischen Mensch und Natur", "die Doppelheit der Geschlechter", der "Zusammenhang von Hunger und Nahrung, von Mutter und Kind, von Mond und Nacht"] sind übergreifend, sie erstrecken sich, wie die Folge von Geburt und Tod, durch jeden Einzelnen hindurch. Hier gilt überall ein 'empirisches Apriori', diese Erfahrungen gehören zur Selbstanschauung des Daseins, sie sind objektiv und vorgegeben, denn sie sind auch im Inneren repräsentiert, als Antrieb, Bedürfnis, als Müdigkeit, wenn die Nacht einfällt, oder als Erwachen bei Tage, als Hintergrundserfüllung oder akuter Mangel.31
Die dieser Zeit entsprechende Bewusstseinsverfassung ist in Tabelle 2 als "magisch-mythisch" bezeichnet. Wir fassen damit die bei Gebser als separat unterschiedenen Stufen des Magischen und des Mythischen zusammen (vgl. 4.2 und 4.3 in "Bewusstsein"). Das hat seinen Grund darin, dass bei der konkreten Betrachtung von bis heute lebenden "Naturvölkern" eine entsprechende Trennung nur schwer durchzuführen ist. In der religionsgeschichtlichen und ethnologischen Literatur wird denn heute auch eine früher angenommene Entwicklungsreihe eher in Frage gestellt, da viele Überlappungen beobachtet worden sind. Z.B. schreibt Friedrich Heiler:
Unter einem Mythus wird zwar häufig die ausgebildete religiöse Erzählung ... verstanden. Tatsächlich finden wir aber schon auf sehr frühen Stufen bei den Naturvölkern die Elemente des geschichtlich referierenden ... Mythus, etwa einen totemistisch-magischen Mythus bei den Aranda- und Loritja-Stämmen Zentralaustraliens.32
Dux seinerseits redet kurz und bündig einfach von der "mythischen Welt", in die er auch Phänomene einschliesst, die Gebser in der magischen Welt ansiedeln würde.33 Im magisch-mythischen Bewusstsein haben Innen und Aussen eine gewisse Trennung erfahren, sind aber auf psychische Art noch stark miteinander verbunden. Es gibt verschiedene Ansichten, wie diese Verbindung zu interpretieren ist. Lucien Lévy-Bruhl redet von einer "mystischen Partizipation",34 die Theodor Abt mit dem tiefenpsychologischen Konzept der Projektion in Verbindung bringt: Es werden psychische Inhalte des Unbewussten auf die Umwelt projiziert.35
Da wir die magische und die mythische Bewusstseinsstufe zu einer zusammenfassen und ihr allgemein das nicht-hierarchische Weltbild zuordnen, müssen wir entsprechend auch die archaische Gesellschaftsstufe um diejenige erweitern, die wir in 4.2 in "Kulturelle Evolution" "matrizentrisch" genannt hatten (vgl. Tabelle 2). Erinnern wir uns an die Vermutung, dass das Mythische in der Zeit des matrizentrischen Gesellschaftstyps seine Blütezeit erlebte (vgl. 4.3 in "Bewusstsein"). Somit beziehen wir uns hier sowohl auf paläolithische nomadisierende Wildbeuter-Gesellschaften wie auch auf neolithische bis bronzezeitliche, dörfliche, gelegentlich auch städtische Gartenbau-Kulturen.

Anmerkungen

30
Dux 1990: 13. Diese Ununterschiedenheit drückt Gregory Bateson in einem seiner mehr oder weniger fiktiven Vater-Tochter-Gespräche so aus: "Daughter: Daddy - are animals objective? Father: I don't know - probably not. I don't think they are subjective either. I don't think they are split that way" (Mary Catherine Bateson 1991: 10).
31
Gehlen 1986: 164.
32
Friedrich Heiler 1984: 59.
33
Vgl. Dux 1990: 128 ff.
34
Siehe Lucien Lévy-Bruhl 1985: 69 ff. Lévy-Bruhls Ideen, die er in seinem erstmals 1910 publizierten Werk "Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures" hinsichtlich des Denkens archaischer Menschen äusserte, sind von Paul Radin und anderen als ethnozentrisch heftig kritisiert worden (siehe dazu z.B. Kurt Goldstein 1964). Nach C. Scott Littleton 1985 ist solche Kritik unberechtigt: Lévy-Bruhl hatte nie die Absicht, solches Denken als minderwertig hinzustellen.
35
Theodor Abt 198: 85 f.