www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

3.1 Das undifferenzierte Weltbild der archaisch-matrizentrischen Zeit

Die Welt der Vorzeit ist nicht-hierarchisch und damit auch richtungslos. Es gibt also keine eindeutigen Vorstellungen von Teilen gegenüber einem Ganzen. Insofern Unterscheidungen dieser Art überhaupt gemacht werden, kann ein einzelner Teil für das Ganze stehen (pars pro toto) und umgekehrt. Ansonsten wird die Welt als aus vielfältigen Einzelheiten bestehend wahrgenommen,104 die alle auf gleicher Stufe stehen, fast beliebig vertauschbar sind und auch alle miteinander in Beziehung stehen können, und zwar auch dort, wo nach unserem Verständnis keine kausal interpretierbare Verbindung besteht - Eder redet hier vom "präkausalen Denken".105 Als Beispiel mag das Weltbild der Navaho-Indianer dienen: "From the Navaho viewpoint everything is related to everything else."106 In der magischen Welt haben die Einzelheiten eher einen unpersönlichen,107 in der mythischen Welt dagegen einen personalistischen Charakter: Hier begegnet das erwachende Ich des Menschen einem "Du" in den Erscheinungen der Umwelt, und zwar gehören dazu nicht nur andere Lebewesen, sondern auch Berge, Flüsse, Winde, Regen, Gestirne usw. So erscheint den eben zitierten Navaho fast alles personalisiert.108 Es wird auch keine scharfe Grenze zwischen dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen gezogen, auch nicht zwischen Mensch und Tier, denn es sind Metamorphosen möglich. Angenommene engere Verwandtschaften zwischen Mensch und Tieren oder auch Pflanzen drücken sich in totemistischen Verbindungen aus und diese können sich als rigorose Verbote der Tötung und des Verzehrs der betreffenden Lebewesen auswirken. Zwischen "natürlich" und "übernatürlich" gibt es keine Grenze109 und die menschliche Kultur wird in Analogie zur Natur gesehen.110 Zur Illustration sind im Exkurs 4 ein magisches Ritual beschrieben und eine mythische Vorstellung wiedergegeben.
Exkurs 4: Beispiele für ein magisches Ritual und eine mythische Vorstellung
Magisches Ritual der Kongo-Pygmäen
Nach Leo Frobenius 1905 in seinem Werk "Unbekanntes Afrika": Er beschreibt, "wie im Kongo-Urwald Leute des zwerghaften Jägerstammes der Pygmäen (es handelt sich um drei Männer und eine Frau) vor der Antilopenjagd im Morgengrauen eine Antilope in den Sand zeichnen, um sie beim ersten Sonnenstrahl, der auf die Zeichnung fällt, zu 'töten'; der erste Pfeilschuss trifft die Zeichnung in den Hals; danach brechen sie zur Jagd auf und kommen mit einer erlegten Antilope zurück: der tödliche Pfeil traf das Tier exakt an der gleichen Stelle, wo Stunden zuvor der andere Pfeil die Zeichnung traf; dieser Pfeil nun, da er seine bannende - den Jäger sowohl wie die Antilope bannende - Macht erfüllt hat, wird unter Ritualen, welche die möglichen Folgen des Mordes von den Jägern abwenden sollen, aus der Zeichnung entfernt, worauf dann die Zeichnung selbst ausgelöscht wird."111
Mythische Vorstellung bei den Desana im Amazonasgebiet
"Bevor die Zivilisation zum Rio Papuri vordrang und ... die Ureinwohner in Abhängigkeit und Elend stürzte ... Die Desana verfügten über ein umfassendes Wissen über die Biologie ihres Lebensraumes, kannten Pflanzen- und Tiergemeinschaften, hatten genaue Vorstellungen über ökologische Zusammenhänge und über Symbiosen. Im Gegensatz zu diesem ausgeprägten Interessse an der Biologie ihres Lebensraumes fehlte ihnen jedoch das Verlangen, ihn durch wirksamere Techniken besser auszubeuten. Und diese vollständige Gleichgültigkeit gegenüber der uns zentralen Kategorie 'Naturbeherrschung' wurzelte in ihrer Kosmologie. Für sie war die Lebensenergie des Universums begrenzt. Vater Sonne, der Weltenschöpfer, hatte eine nicht vermehrbare Gesamtzahl von Lebewesen geschaffen. Das Werden und Vergehen aller Geschöpfe ... bewegten sich in einem Kreislauf, ... in den die Menschen sich einfügen mussten. Da in diesem Kreislauf pflanzliche, tierische und menschliche Lebensenergie nur untereinander ausgetauscht, nicht aber vermehrt werden konnte, durften die Desana, wollten sie ihre Lebensgrundlage nicht gefährden, den ihnen zustehenden Anteil nicht überschreiten. Aus diesem Grund praktizierten sie eine rigorose Geburtenkontrolle. ... Am deutlichsten prägte sich die Wechselbeziehung zwischen Ökologie, Ökonomie und Moral im Jagdritual aus. ... Die Jäger mussten eine Vielzahl von Regeln und Geboten beachten, durch die der Schamane ... den Zugang zum Wild kontrollierte."112
Wie schon in 4.3 in "Bewusstsein" erwähnt, sieht Dux in der Tatsache, dass die Aussenwelt als von zweckhaften Kräften, ob personifiziert oder nicht, belebt gesehen wird, das Resultat der immer wiederholten ersten ontogenetischen Erfahrung von Kindern: "Für das Kleinkind ist die Mutter die Natur. Als das schlechthin dominante Objekt im Aktionsfeld des Neugeborenen bildet sie deshalb das quasi natürliche Objekt, an dem sich die kategoriale Objektform ausbilden kann und muss."113 Mit diesem Bezug auf die kleinkindliche Erfahrung meint Dux aber nicht, dass die kognitiven Systeme archaischer Gesellschaften einfach mit denen von Kindern, in welcher Gesellschaft auch immer, identisch sind, aber doch, dass "der Prozess der Ausbildung des Wissens ... immer von der kulturellen Nullage des Organismus aus beginnt" und dies auch der Ausgangspunkt für die Entstehung von Kultur bei den archaischen Völkern war.114 Da die Mutter als handlungsfähiges Objekt, als "Subjekt-Objekt" wahrgenommen wird, entsteht ein subjektivisches Schema der Interpretation der Aussenwelt. Die Konsequenz ist, dass der Aussenwelt respekt-, rücksichts- und pietätsvoll begegnet wird.115 Hinsichtlich des Weltbildes der Ojibwa sagt z.B. Hallowell:
... the same standards which apply to mutual obligations between human beings are likewise implied in the reciprocal relations between human and other-than-human 'persons'.116
Und wenn Tiere für den eigenen Lebensunterhalt erlegt werden mussten, entschuldigte man sich bei ihnen:
So far as animals are concerned, when bears were sought out in their dens in the spring they were addressed, asked to come out so that they could be killed, and an apology was offered to them.117
So nehmen sich Menschen als in ein numinoses Kräftefeld eingewoben wahr und sie versuchen, durch ein möglichst gutes Einfügen in das Geschehen diesem gerade dadurch eine günstige Richtung zu geben bzw. eine gegebene Weltordnung zu unterstützen oder auch eine gestörte Ordnung wiederherzustellen.118 Dies geschieht durch rituelle Praktiken. Das Sollen von Normen wird damit mit dem Sein einer natürlichen Ordnung identifiziert.119 Dazu gehören aber noch zwei Anmerkungen. Erstens: Den Kräften der Aussenwelt kommen nicht nur förderliche und nützliche Aspekte zu, sondern auch schädliche oder gar zerstörerische. Entsprechend gilt es, in diesem Fall unnötige Kontakte mit ihnen zu vermeiden, und es gibt im magischen Weltbild Orte und Dinge die "Tabu" sind.120 Zweitens: Der Versuch, die Kräfte zu beherrschen oder zu manipulieren, würde nach der Gebserschen Sprechweise nicht mehr einem effizienten, sondern einem defizienten Umgang mit ihnen entsprechen.
Die erwähnte Richtungslosigkeit bezieht sich auch auf die Dimensionen von Raum und Zeit. In einem gewissen Sinne leben archaische Menschen raum- und zeitlos, wenn auch (nach Gebser) der mythische Mensch bereits eine zeitnahe Existenz hat, die aber durch ein Leben in einer nicht-linearen, zyklisch angelegten Naturzeit zustandekommt. Stanley Diamond sagt dazu:
Primitives do not lack a general capacity to conceptualize development or change in form over time; their perceptions are not static. ... But history to them is the recital of sacred meanings within a cyclic, as opposed to a lineal, perception of time.121
Sehr schön kommt dies in der Mythologie der matrizentrischen Gesellschaften zum Ausdruck:
... der Jahreszeitenzyklus mit den Stadien Wachstum, Tod, Wiederkehr bestimmte das Denken. Im rituellen Bereich vollzogen die Oberpriesterin oder sakrale Königin und der sakrale König ... die typischen Jahreszeitenfeste, die mit den Zyklen der Vegetation übereinstimmten und diese magisch beeinflussten ... .122
Dabei hatten die landwirtschaftlichen Arbeiten zwar natürlich einen Nutzeneffekt, aber dies war schon fast eher ein Nebenprodukt: In erster Linie war sie heilig, ein Ding in sich selbst.123 Das Manipulative hielt sich damit in Grenzen, mindestens so lange wie die mythische Zeit durch weibliche Gottheiten geprägt war, die für das Lebensspendende und Lebensbewahrende standen.

Anmerkungen

104
Gebser (1949: 80) redet davon, dass das Bezugssystem "diese ... punktartig voneinander geeinzelten Gegenstände, Geschehnisse oder Taten" seien.
105
Eder 1980: 52.
106
Clyde Kluckhohn 1964: 108.
107
Für Kräfte dieser Art hat sich in der Ethnologie die Gattungsbezeichnung "Mana" eingebürgert, ein Begriff, der aus dem Melanesischen stammt (vgl. Friedrich Heiler 1984: 50 ff.).
108
Siehe Kluchkhohn 1964: 104 f.
109
Eigentlich sollte der Ausdruck "übernatürlich" gar nicht verwendet werden, da in einem archaischen Weltbild alles als natürlich erscheint (vgl. Irving Hallowell 1964: 58).
110
Eder (1980: 152 f.) spricht hier von der "konkretistischen Verknüpfung von Realitätsbereichen" bzw. von einer "analogischen Isomorphie".
111
Gebser 1949: 81.
112
Jost Herbig 1985: 161-163.
113
Dux 1990: 93.
114
Dux 1990: 106.
115
Vgl. Dux (FN 13), S. 260.
116
Hallowell 1964: 76.
117
Hallowell 1964: 25.
118
Vgl. Eder 1980: 28 f.
119
Vgl. Eder 1980: 152.
120
Siehe Heiler 1984: 50 ff.
121
Stanley Diamond 1964: v. Zum Vergleich: In den mit der mentalen Bewusstseinsstufe verknüpften, in 2 besprochenen Weltbildern erfährt die Vorstellung von Zeit und Raum eine zunehmende Linearisierung und Abstrahierung.
122
Heide Göttner-Abendroth 1984: 13.
123
Vgl. Diamond 1964: viii.