2.1 Zwei Kulturen
Das holistisch-organismische Weltbild stellt in Form verschiedener Varianten eine wesentliche kulturelle Grundlage der politischen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters dar, während das atomistisch-mechanistische Weltbild sich als dominierende Sichtweise der neuzeitlichen ökonomischen Gesellschaft etabliert. Dabei ist mit dieser zeitlichen Abfolge zwar die Regel, aber keine Ausschliesslichkeit behauptet: In beiden Phasen der kulturellen Evolution traten denn auch zeitweise "Gegenkulturen" auf. Einerseits gab es atomistische Vorstellungen auch schon in der griechischen Antike. Z.B. waren Leukipp und sein Schüler Demokrit (ca. 470-360 v.u.Z.) der Auffassung, die Erscheinungen dieser Welt (auch menschliche Körper und Seelen) seien nach einem Baukastenprinzip aus winzigen, unteilbaren, unvergänglichen und unveränderlichen Körperchen zusammengesetzt. Sie trafen auch schon eine Unterscheidung zwischen wirklichen und scheinbaren Eigenschaften der Dinge, eine Unterscheidung, die später mit der Rede von primären versus sekundäre Eigenschaften wieder auftaucht (siehe 2.2).42 Umgekehrt wurden in der Neuzeit immer wieder auch holistische Ansätze vertreten. Als Beispiele seien genannt:
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Im Bereich der Philosophie erstens die Zeit des Deutschen Idealismus mit Fichte (1762-1814), Hegel (1770-1831) und Schelling (1775-1854)43 und zweitens die Naturphilosophie von Adolf Meyer-Abich (1893-1971)44;
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Im Bereich der Biologie, einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich nie durchgehend mit dem atomistischen Denken befreunden konnte, die Auffassungen von Goethe (1749-1832)45, von Hans Driesch (1867-1941)46 und von Jakob von Uexküll (1864-1944)47.
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Ganz allgemein haben sich die Geisteswissenschaften mit dem neuzeitlichen Weltbild nie ganz identifizieren mögen. Sie haben sich in ihrer Zugangsweise zu den Objekten ihrer Untersuchung immer wieder so sehr von den Naturwissenschaften unterschieden, dass der englische Wissenschaftler und Schriftsteller Charles P. Snow in einem Vortrag 1959 die Existenz von "zwei Kulturen" diagnostizieren konnte.48
Jedenfalls: Trotz aller zeitweisen Dominanz des einen oder des andern Weltbildes scheint es auch berechtigt zu sein, von einem Widerstreit der beiden zu reden. Die in Abbildung 3 gezeigte Gegenüberstellung von Begriffen, die einerseits zur Ebene des Ganzen, andererseits zur Ebene der Teile gehören, soll in einfacher Weise die Gegensätzlichkeit gewisser wichtiger Grundprinzipien bei den beiden Weltbildern illustrieren. Eine weitergehende Gegenüberstellung verschiedener Aspekte findet sich in Tabelle 3.
Abbildung 3: Einige Gegensatzpaare zur vergleichenden Charakterisierung des holistisch-organismischen und des atomistisch-mechanistischen Weltbildes
Tabelle 3: Verschiedene Aspekte der beiden gegenläufigen Weltbilder im Vergleich
Art des Aspektes |
Holistisch-organismisches Weltbild |
Atomistisch-mechanistisches Weltbild |
Ideologie |
Holismus |
Atomismus |
Metapher |
Welt als Lebewesen |
Welt als Maschine |
Art der Hierarchie |
Regulativ |
Konstitutiv |
Kausalitätsrichtung |
Von oben nach unten |
Von unten nach oben |
Erklärungsschema |
Zerlegung: Ganzes ---> Teile |
Aufbau: Teile ---> Ganzes |
Rückführbarkeit der Phänomene |
Nach oben |
Nach unten (Reduktionismus) |
Charakteristik des Ganzen |
Vorgegebenes Muster |
Epiphänomen |
Eigenschaften der Teile |
Von Stellung im Ganzen bestimmt |
Wesentlich, den Teilen inhärent |
Stil der Interaktion |
Partizipation durch Anpassen und Einfügen |
Manipulation mittels Kontrolle und Vorhersage |
Typisches mathematisches Rüstzeug |
Geometrie |
Infinitesimalrechnung |
Art des Denkens |
Final (auf Zwecke gerichtet) |
Kausal (Ursache ---> Wirkung) |
Typische Frage |
Wozu? |
Wie? |
Bewertbarkeit der Phänomene |
Werturteile sind inhärent |
Wertfreiheit der Wissenschaft postuliert |
Schluss vom Sein auf das Sollen |
Möglich oder gar notwendig |
Nicht möglich |
Mensch und Umwelt |
Sind noch seelisch verbunden |
Stehen sich als Subjekt und Objekt gegenüber |
Betonung im sozialen Bereich |
Auf Gemeinschaft |
Individuum |
Zeitwahrnehmung |
Zyklisch, statisch |
Linear, fortschreitend |
Anmerkungen
42
Vgl. z.B. Hans Joachim Störig 1985: 140-141.
43
Siehe dazu z.B. Störig 1985: 438 ff.
45
Siehe z.B. Konrad Dietzfelbinger 1982.
46
Vgl. z.B. Gordon Rattray Taylor 1963: 255 ff.
47
Siehe dazu Jakob von Uexküll 1980.
48
Siehe Charles P. Snow 1993a: 4. Genauer genommen redete Snow von den "scientists" einerseits und den "literary intellectuals" andererseits (Snow 1993a: 4). Mit den ersteren meinte er klarerweise die NaturwissenchaftlerInnen, während er bei den letzteren ursprünglich eigentlich an nicht-akademische literarische Personen dachte. In gewisser Erweiterung der Snowschen Gedanken darf man aber wohl beim Bereich der "Literatur" das einschliessen, was an den angelsächsischen Hochschulen als "humanities" bekannt ist (vgl. die Einführung von Stefan Collini in Snow 1993a: li). Später hat dann Snow in den Sozialwissenschaften noch eine "dritte Kultur" identifziert (siehe Snow 1993b: 70).