www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

6.1.1 Das "integrale Bewusstsein" bei Jean Gebser

Die in 4.4. beschriebene defiziente Phase der mentalen Bewusstseinsstufe gerät in eine Sackgasse. Es muss nun zu einer neuen Bewusstseinsmutation kommen, die aber nicht zu einer neuen Schicht führt, sondern zu einer Integration der bisherigen Schichten zu einem "integralen Bewusstsein".177 Gebser legt Wert auf die Feststellung, dass es sich dabei nicht um eine blosse Synthese handeln kann, denn synthetisierend würden wir trotz jedes Einigungsversuches in die Dualität zurückfallen. Mit der Vorstellung einer Integration wendet er sich gegen den gegenwärtig herrschenden Dualismus zweier gegenläufigenr Tendenzen, nämlich der Wissenschaft einerseits und der Geheimwissenschaft (Esoterik) andererseits. Die erstere ist nur vorwärts gerichtet und versucht, in quantitativ-materialistischer Weise alles zu teilen, die letztere nur rückwärts gerichtet mit dem Ziel, frühere Bewusstseinszustände zu reaktivieren und damit auf qualitativ-psychistische Art alles zu einigen.
Auf der einen Seite Preisgabe der Souveränität des Mentalen durch rationales Auflösen, das suprarationalisiert atomisierend auf die Materie wirkt; auf der anderen Seite Preisgabe der Souveränität des Mentalen ... durch Zurücksinken ins Irrationale, also durch irrationales Auflösen, das dementalisiert atomisierend auf die Psyche und das Mentale wirkt.178
Um was es beim integralen Bewusstsein wirklich geht, ist schwierig zu erklären, es kann "gerade noch andeutend aufgezeigt werden".179
... wir verstehen ... unter Integrierung den Vollzug einer Gänzlichung, die Herbeiführung eines Integrum, das heisst die Wiederherstellung des unverletzten ursprünglichen Zustandes unter bereicherndem Einbezug aller bisheriger Leistung.180
Die Schwierigkeit besteht darin, dass unser Bewusstseinsvermögen dabei in der Lage sein muss, sich an die verschiedenen älteren Bewusstseinsformen zu adaptieren. Metaphorisch gesprochen entspricht der archaische Zustand dem Tiefschlaf, der magische dem Schlaf, der mythische dem Traum und der mentale der Wachheit. Diese Zustände vom Bewusstsein her nun bloss aufzuhellen, hiesse sie zerstören. Um dies zu vermeiden, müssen sie in ihrer Konkretheit integriert werden, dann können sie zwar nicht mental erhellt, wohl aber integral durchsichtig (transparent oder "diaphan") und gegenwärtig werden. Es handelt sich somit nicht um eine Bewusstseins-Erweiterung - das ist eine einseitig quantitative Vorstellung, die von der Tiefenpsychologie propagiert wird -, sondern um eine Bewusstseins-Intensivierung.

Anmerkungen

177
Siehe dazu Gebser 1949: 171-178. Eine ausführliche Darstellung des integralen Bewusstseins findet sich in Gebser 1953.
178
Gebser 1949: 172.
179
Gebser 1949: 173.
180
Gebser 1949: 173.